Immer mehr Frauen sind von Social Media abhängig, Männer tendieren zur Glücksspiel- und Pornografiesucht. Online-Süchte sind auf dem Vormarsch – aber woher kommt der starke Anstieg?
Es ist offiziell: Die Gaming Disorder wurde, gemeinsam mit anderen internetbezogenen Süchten, im ICD-11 aufgenommen. Beschrieben wird die Störung als „ein Muster des Spielverhaltens, das durch eine eingeschränkte Kontrolle über das Spielen, eine zunehmende Priorität des Spielens gegenüber anderen Aktivitäten in dem Maße, dass das Spielen Vorrang vor anderen Interessen und täglichen Aktivitäten hat, und die Fortsetzung oder Eskalation des Spielens trotz des Auftretens negativer Konsequenzen gekennzeichnet ist.“
Damit ist eine behandlungsrelevante Diagnose vorhanden. Auch die deutsche Version des ICD-11 liegt als Entwurfsfassung beim BfArM vor. Mindestens fünf der neun Kriterien müssen für eine Diagnose erfüllt sein. Zu den Diagnosekriterien gehören:
Die Gaming Disorder ist allerdings nicht die einzige internetbezogene Sucht, die in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit bekommt. Beinahe jeder Bereich des Online-Lebens kann potenziell süchtig machen – und Online-Süchte werden immer häufiger. Aber wie entstehen die Süchte nach Computerspielen, Sozialen Medien und Pornografie und was kann man dagegen tun?
Sicherlich kann man der Pandemie auch in Sachen internetbezogene Süchte einiges an Schuld in die Schuhe schieben. Einsamkeit ist dabei ein wichtiges Thema, nicht nur während der akuten Pandemiejahre, sondern auch weit darüber hinaus. Diese Einsamkeit verleitet dazu, soziale Kontakte und Zeitvertreib in anderen Bereichen des Lebens zu suchen, oftmals eben online. Und das nicht nur mit Spielen. Besonders Frauen tendieren dazu, viel Zeit mit Chatten und Social Media zu verbringen – auch das kann zur Sucht werden. Ebenso wie Pornografie und Glücksspiele, von denen überwiegend Männer abhängig sind. Erwachsene tendieren eher zur Glücksspielsucht, Jugendliche und junge Erwachsene eher zur Computerspielsucht. Das Suchtpotenzial ist quasi grenzenlos.
Dr. Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht von der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz, sieht interessanterweise einen demographischen Wandel bei den Patienten, die unter diesen Süchten leiden. „Nach den Lockdowns kommen immer mehr Patienten zu uns [in die Ambulanz; 20 – 25 % mehr]. Wichtig ist dabei, zu sehen, dass sich das Altersspektrum ebenfalls ändert. Während wir in den Jahren 2018 – 2020 ein sehr junges Patientenklientel hatten (18 – 30 Jahre), haben jetzt die Personen im Alter von über 40 Jahren deutlich zugenommen“, erklärte Wölfling auf einer Pressekonferenz des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. „Es sind Personen aus der Mitte der Gesellschaft die glücksspielsüchtig, pornografieabhängig oder computerspielsüchtig sind.“
Der pandemiebedingte Rückzug aus dem klassischen gesellschaftlichen Leben hat bei vielen Patienten die bereits vorhandenen Anzeichen eines sozialen Rückzugs, beispielsweise auf Grund einer Depression und Angststörung, weiter verstärkt.
Neben der Pandemie gibt es aber einen weiteren treibenden Faktor: die immer größere Schnittmenge an älteren Menschen, die sich komfortabel im digitalen Raum bewegen. Das führt dann, alleine durch die größere Nutzerzahl, natürlich auch zu einer größeren Zahl an Patienten, die unter Onlinesüchten leiden. „Chatten, Social Media und Computerspiele bieten ein soziales Netzwerk für Personen, die im realen Leben vielleicht etwas weniger Kontakte haben und durch im Alterungsprozess etwas vereinsamen“, so Wölfling.
Ein besonders hohes Suchtpotential, neben Computerspielen, bietet Social Media. Viele soziale Netzwerke haben das Modell des Belohnungssystems perfektioniert. Jede einzelne Interaktion und jeder Like kann eine Dopaminreaktion im Gehirn auslösen und so das Belohnungssystem aktivieren – und dieses Gefühl kann ganz schnell sehr gefährlich werden. „Wenn wir die sozialen Medien intensiv nutzen, kann das zu einer Veränderung unseres internen Belohnungssystems führen“, erläutert Wölfling. Außerdem kann es durch die Fülle an Informationen und die schnelllebige Welt der sozialen Netzwerke zur FOMO (Fear Of Missing Out), also der Angst, etwas zu verpassen, kommen. Das kann so weit gehen, dass die Betroffenen ständig erreichbar sein müssen und reale soziale Kontakte darunter leiden.
Die Prozesse, die der Entwicklung von internetbasierten Süchten zugrunde liegen, ähneln denen von substanzbezogenen Süchten. „Digitale Applikationen haben das Potenzial, ähnlich zu wirken, wie Alkohol oder andere psychotrope Substanzen“, so Wölfling. Dementsprechend handelt es sich bei einer möglichen Therapie um einen abstinenzbasierten Ansatz, der den Fokus darauf legt, von der Problemapplikation abzulassen. Das große Problem: Man kann den Patienten nicht den kompletten Internetzugang nehmen. Für viele wäre ihr tägliches Leben – inklusive Arbeit und Kommunikation – dadurch nicht mehr machbar. Deswegen sollte sich die Abstinenztherapie streng auf die betroffenen Bereiche, also beispielsweise Computerspiele, Social Media oder Pornografie, fokussieren.
Da das Vertrauensverhältnis der Patienten zu Hausärzten besonders ausgeprägt ist, können sie dabei helfen, potenziell gefährdete Patienten zu sensibilisieren. Hausärzte sollten diese Störungsbilder zumindest im Hinterkopf behalten und bei einer entsprechenden Anamnese mit abfragen. „Es ist aber wichtig, dass wir nicht überdiagnostizieren und quasi eine digitale Pandemie heraufbeschwören. Sondern, dass wir an medizinischen und psychologischen Grundlagen anknüpfen, die international anerkannt sind“, konkludiert Wölfling.
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