In unserem Job schauen wir oft in menschliche Abgründe – das hinterlässt Spuren in unserem Hirn. Bei einem Einsatz holte mich ein Fall ein, der gute zwanzig Jahre zurücklag.
Mir wird kalt. Die siebzehnjährige Elena hat einen ganzen Blister Tabletten geschluckt – um diese Welt zu verlassen. Sie hat einiges hinter sich: Jahrelang wurde sie missbraucht und gefoltert. Der Absturz in den Suizidversuch ist nun der absolute Tiefpunkt ihrer Leidensgeschichte.
Noch während ich meiner Notfallpatientin gegenübersitze, schlägt ein Flashback wie ein Blitz in meinem Hirn ein. Elena erinnert mich in diesem Moment an Kim – eine meiner Patientinnen ähnlichen Alters, die ich in einer zufälligen Begegnung kennenlernte und dann sterben sah.
Kim, das Mädchen mit dem schmalen Gesicht und den schwarzen, langen Haaren, lernte ich zufällig während meines Dienstes am Parkplatz eines großen Einkaufszentrums kennen. Sie beschwerte sich, dass ihr geliebtes Center abgerissen werden sollte, und so kamen wir ins Gespräch. Zuerst dachte ich, sie wäre eine ganz normale quirlige Jugendliche. Dann ließ sie mich an ihrer Existenz teilhaben – eine bittersüße Welt, garniert mit Sehnsüchten, Träumen und Plänen, die niemals wahr werden konnten.
Kim hatte sich ein Halbmond-Tattoo am Handgelenk selbst gestochen, dessen Gegenpart ihre beste Freundin trug. Die Freundin starb durch Suizid und ließ jene Kim allein, die mich so durch ihren Willen beeindruckt hatte, sich nichts und niemandem zu beugen. Weder ihren Eltern, für die der berufliche Weg ihrer Tochter entgegen ihrem Willen längst feststand, noch ihrem pädophilen Onkel, der sich jahrelang an ihr verging. Kim zog ihr eigenes Ding durch. Selbst wenn es sie das letzte bisschen Kraft kosten würde.
Nun stehe ich handlungsunfähig vor meiner Notfallpatientin Elena, der das gleiche Schicksal droht. Ich kann die Bilder in meinem Kopf nicht kontrollieren. Die Bilder von jenem Tag, an dem ich Kims Brustkorb im Takt eindrückte, in jener versifften, stinkenden Bahnhofstoilette, ehe der Notarzt sie endgültig für tot erklärte. Die letzten Sekunden dieses kurzen Lebens hallen in meinen Kopf immer und immer wieder nach und werden – so fühlt es sich zumindest an – niemals aufhören.
Lange nach diesem Einsatz stelle ich mir noch immer die Frage, wie ich diese tickende Zeitbombe aus meinem Kopf herausbekommen kann, ohne dass sie hochgeht. Wie kann ich verhindern, von diesem Gefühl der Machtlosigkeit gelähmt zu werden und handlungsfähig bleiben?
Als Berufshelfer stehen wir oft am Abgrund der Gesellschaft. Wir sind Zaungäste in erster Reihe und können manchmal nur dabei zusehen, wie das Leben von Menschen unrettbar dahinschmilzt. Wenn wir Geschichten wie die von Kim und Elena zu nah an uns heranlassen, können sie die größten Dämonen im ungünstigsten Moment aus unseren Tiefen herauslocken. Über Jahre hinweg nehmen wir teil an den Katastrophen der Menschen, denen wir helfen möchten. Lange können wir das gut von uns halten. Aber etwas bleibt – so, als schütte man die Belastungen in einen überdimensionalen Topf. Lange passiert nichts, aber irgendwann stehen sie bis zum Rand. Und dann kommt der eine Einsatz, der an sich noch nicht einmal so katastrophal verlaufen muss – und Bumm.
Dieses Phänomen wird auch als sekundäre Traumatisierung oder Compassion Fatigue bezeichnet. Figley et al. belegten schon 1995, dass Mitarbeiter in helfenden Berufen, die regelmäßig mit belastenden Einsätzen konfrontiert werden, ein höheres Risiko für sekundäre Traumatisierung haben. Weitere Studien haben gezeigt, dass Faktoren wie fehlende Unterstützung am Arbeitsplatz, mangelnde Selbstfürsorge und ein Gefühl der Ohnmacht oder des Kontrollverlusts die Wahrscheinlichkeit einer kumulativen Belastung erhöhen können. Es wurde auch festgestellt, dass die Dauer der Berufserfahrung und die Anzahl der traumatischen Ereignisse, mit denen die Mitarbeiter konfrontiert waren, signifikante Prädiktoren für das Auftreten von Sekundärtraumatisierung sind.
Exakt – je älter man ist, desto weicher wird man. Aus eigener Erfahrung kann ich das bestätigen.
Das ist ein Problem. Die Vorsorge müsste bereits mit dem Einstieg in das Berufsleben beginnen und entsprechende Anleitung dazu müsste in der Ausbildung vermittelt werden. Ich persönlich habe mich zunächst für Selbstfürsorge-Strategien entschieden. Selbstfürsorge bedeutet für mich nicht nur, ausreichend zu schlafen und auf eine ausgewogene Ernährung zu achten; Sport gehört ebenfalls dazu und erzeugt ein emotionales Gleichgewicht in mir.
Aber noch wichtiger sind vertraute Menschen in meinem Leben, mit denen ich mich treffe und über das Erlebte spreche. Das alles zu befolgen geht nicht immer, ich weiß. Mein Leben ist mit Sicherheit ähnlich voll wie das der meisten, die in Jobs wie diesen arbeiten. Aber letztendlich musste ich mir überlegen, was ich für meine Gesundheit als am wichtigsten erachte.
Eine weitere Strategie, die ich nutze, ist das Netzwerk aus Kolleginnen und Kollegen – also mein Team. Mich mit ihnen auszutauschen bewirkt manchmal, dass sich ein Knoten im Kopf löst und schwierige Gedanken schmelzen wie Eis in der Sonne.
Wenn allerdings alle Rückfallebenen aufgebraucht sind, sich die Flashbacks wiederholen und Gespräche mit Freunden, Kollegen oder dem Partner nichts mehr helfen, wird es Zeit, sich professionelle Hilfe zu suchen. Wie schnell man an dieser Stelle reagiert, entscheidet möglicherweise über die eigene Arbeitsfähigkeit.
Der Einsatz um Kims Drogentod ist jetzt unfassbare 20 Jahre her. So lange hat mich mein Hirn damit in Frieden gelassen und mich vor derartigen Flashbacks verschont. Aber bei diesem Einsatz habe ich gemerkt, wie sich fehlende Strategien gegen psychische Belastungssituationen auswirken können.
Bildquelle: Sara Rahmani, unsplash