In den USA ist die Familienmedizin ein etablierter Begriff: Die Behandlung von Patienten wird zum gewissen Maße an das häusliche Umfeld angepasst. In Deutschland hat es die Familienmedizin noch schwer. Zwar ist der Bedarf groß, doch es mangelt an Expertise.
Gesellschaftliche Trends wie Alterung, Migration, soziale Unterschiede oder Verarmung enden nicht vor der Praxistür. Sie haben einen direkten Einfluss auf die gesundheitliche Verfassung von Patienten. Statt der klassischen Kern- oder Großfamilie gibt es heute vermehrt alleinerziehende Eltern, Patchwork-Familien oder Senioren ohne jegliche Bezugsperson. „Familienmedizin ist eine wichtige Aufgabe in der hausärztlichen Versorgung“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) in einem Positionspapier. Demnach soll der Patient immer auch im Kontext seiner Familie oder sozialen Gemeinschaft, auch im häuslichen Umfeld, durch den Hausarzt betreut werden.
Der Bedarf an Familienmedizern ist hierzulande da, es mangelt aber an familienmedizinischer Expertise. Schon vor elf Jahren kritisierte Dr. Jürgen Collatz, damals an der Medizinischen Hochschule Hannover tätig: „Von einer vernetzten familienmedizinischen Versorgung ist Deutschland noch weit entfernt.“ Beim Thema brauche es „mehr Lobby“. Zu ähnlichen Ergebnissen kam der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen bei einem Sondergutachten. Im Video erzählt der hausärztlich tätige Internist Dr. Rüdiger zur Bonsen aus Köln, wie er familienmedizinische Ansätze in die Behandlung von Patienten integriert.
In den USA durchlaufen Ärzte eine drei- bis vierjährige zertifizierte Zusatzausbildung, um als „Family Physician“ zu arbeiten. Und in Kanada sind zwei Jahre erforderlich. Die meisten europäischen Länder, Deutschland eingeschlossen, bewerten Familienmedizin eher vage als Teil der Allgemeinmedizin (§ 73 SGB V). Recht spät, nämlich erst 2016, erschien eine umfassende Arbeitsdefinition des Begriffs auf Basis von Experten-Statements. Zur Familienmedizin gehören demnach folgende Aufgaben:
Diese recht abstrakten Punkte ließen sich im Praxisalltag leicht umsetzen lassen. Schon bei normalen Untersuchungen, etwa beim Ultraschall, könnten Hausärzte Fragen zum Umfeld stellen: Wie ist die familiäre Situation? Wie zufrieden sind Patienten in ihrem Job? Wie läuft es in sexueller Hinsicht? Ziel ist es, den psychosozialen Hintergrund zu erfassen, um Patienten besser zu betreuen.
Familiäre Einstellungen zur Prävention oder zum Lebensstil prägen Patienten. Auch bei Erkrankungen oder nach Geburten gilt die Familie als Ressource, um schneller zu genesen. Nicht zuletzt geben Freunde oder Verwandte Palliativpatienten Kraft, etwa bei Krebserkrankungen. Um Familienmedizin in größerem Rahmen zu praktizieren, reichen eigene Ressourcen kaum aus. Im belgischen Gent existiert seit rund 40 Jahren das Community Health Centre (CHC). Vor Ort kooperieren Hausärzten und stationär tätige Kollegen mit Krankenpflegern, Ernährungsberatern, Sozialarbeitern, Entzugsexperten, Psychologen, Physiotherapeuten sowie mit Zahnärzten. Hausärzte sind am CHC Teil eines interdisziplinären Netzwerks geworden.