Forscher haben ein Modell entwickelt, um die Giftigkeit von Chemikalien in Gewässern vorherzusagen. Die Erkenntnisse helfen nun bei der Bestimmung von Umweltgrenzwerten und Vorbereitung auf Worst-Case-Szenarien.
Die Giftigkeit von Chemikalien in Gewässern kann abhängig vom Säuregehalt des Wassers um mehrere Größenordnungen variieren – das ergab eine Studie der Universitäten Tübingen und Athen sowie des Umweltbundesamts. Das Forscherteam prüfte die Wirkung von 24 größtenteils als Medikamente eingesetzten Stoffen auf die Entwicklung von Fischembryonen in realitätsnahen Szenarien. Dazu erarbeitete das Team ein Modell für die zuverlässige Vorhersage der Giftigkeit von ionisierbaren Chemikalien in Gewässern.
Zur Gewährleistung der Wirksamkeit von Medikamenten soll der menschliche Körper Arzneiwirkstoffe in der Regel nicht abbauen. Deshalb wird der größte Teil nach Einnahme häufig wieder unverändert ausgeschieden. Aufgrund der steigenden Medikamentennutzung im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel gelangen jedoch immer größere Mengen unterschiedlicher Stoffe über das Abwasser in Gewässer und in die Umwelt.
Die in der Studie untersuchten Stoffe wie die Schmerzmittel Diclofenac und Ibuprofen, der Cholesterinsenker Clofibrinsäure und der Betablocker Metoprolol sind ionisierbare Moleküle, sie können also in neutraler oder elektrisch geladener Form vorliegen. Natürliche Gewässer können wiederum verschiedene pH-Werte aufweisen. „All diese Faktoren haben Einfluss auf die Aufnahme der Stoffe in die Zellen von Lebewesen, die sie schädigen können“, erklärt Studienautor Heinz Köhler.
Als Testorganismus diente der Zebrabärbling, dessen sich entwickelnde Eier den Chemikalien ausgesetzt wurden. Bestimmt wird jeweils der sogenannte LC50-Wert, der diejenige Schadstoffkonzentration wiedergibt, bei der 50 % der Fischembryonen sterben. In der Studie testeten die Forscher die Toxizität der Chemikalien bei bis zu vier verschiedenen pH-Werten von leicht saurem bis zu basischem Wasser in mehr als 1.200 Einzelversuchen.
„Bei einigen Arzneimittelwirkstoffen wie zum Beispiel Diclofenac, dem Betablocker Propanolol und dem Antidepressivum Fluoxetin variierte der LC50-Wert bei den Fischembryonen mehr als tausendfach zwischen pH 5 und pH 9“, berichtet Köhler. Daher müsse man von realistischen Worst-Case-Szenarien ausgehen, damit solche Stoffe bei Freisetzung und dem Zusammentreffen der denkbar schlechtesten Bedingungen die Lebewesen in Gewässern nicht zu stark schädigten. Dabei erwiesen sich die Stoffe im ungeladenen Zustand im Durchschnitt als toxischer als in ihrer ionisierten Form.
Basierend auf verschiedenen Annahmen, wie effektiv die jeweiligen Stoffmoleküle die Zellmembran durchdringen und welche Schadwirkung sie in den Zellen haben könnten, baute das Forschungsteam seine jeweiligen Modellierungsansätze auf. Um die Toxizität bei verschiedenen pH-Werten des Umgebungswassers zu simulieren, verglichen sie sechs mathematische Modelle. „Für die praktische Anwendung wählten wir dasjenige Modell aus, mit dem es möglich ist, die unterschiedliche toxische Wirkung auf Fische über drei Größenordnungen hinweg verlässlich nachzubilden“, sagt Köhler.
Die Ergebnisse wurden nun von der EU-Kommission für die Ableitung eines Grenzwertes – der Umweltqualitätsnorm – für den Arzneimittelwirkstoff Ibuprofen berücksichtigt. Nach Einschätzung der Studienautoren sollten die Ergebnisse jedoch auch Auswirkungen auf die Registrierung und Autorisierung weiterer Chemikalien sowie auf die Definition von Umweltqualitätsstandards haben. Mit dem achtfach niedrigeren EU-Gewässergrenzwert für Ibuprofen als er nach der bisherigen Methode angesetzt worden wäre, sei aber schon ein Anfang gemacht, so die Wissenschaftler.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Originalpublikation findet ihr hier.
Bildquelle: Artem Beliaikin, unsplash.