Während der Gehirnentwicklung müssen die Vorläufer von Pyramidenzellen manchmal weite Strecken zurücklegen, um die richtige Zielschicht zu erreichen. Laut Neurobiologen helfen dabei besondere Proteine, die je nach Bindungspartner abstoßende und anziehende Signale auslösen.
Forscher am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried und der Universitäten in Oxford und Frankfurt haben nun herausgefunden, dass FLRT-Proteine auf der Oberfläche der Vorläuferzellen je nach Bindungspartner abstoßende und anziehend Signale auslösen können. Sie besitzen daher gegenläufige Wirkungen auf die Zellwanderung – welcher Effekt überwiegt, hängt von der jeweiligen Phase der Zellwanderung ab. Die Wissenschaftler entschlüsselten die Oberflächenstrukturen, die für die zwei Funktionen der FLRTs notwendig sind. Die Ergebnisse zeigen, dass FLRTs auch in den Wänden von Blutgefäßen anziehende und abstoßende Wirkung haben und folglich auch die Entwicklung anderer Gewebetypen steuern.
Pyramidenzellen sind die zentralen Nervenzellen in der Großhirnrinde. Während der Embryonalentwicklung klettern die Vorläufer der Pyramidenzellen an den Ausläufern sogenannter Gliazellen entlang von ihrem Ursprungsort zur Oberfläche der Großhirnrinde. Sobald die Zellen in der ihnen zugedachten Schicht angekommen sind, entwickeln sie sich zu fertigen Pyramidenzellen und verknüpfen sich zu einem funktionellen Netzwerk. Die Pyramidenzellen breiten sich auch in begrenztem Umfang innerhalb dieser Schichten aus – die Bedeutung dieser tangentialen Wanderung wird bisher noch wenig verstanden. Diese Wanderung der Vorläufer-Pyramidenzellen wird von den FLRTs (Fibronektin-Leucin-reichen Transmembranproteinen) auf der Oberfläche der Vorläuferzellen gesteuert. Den Forschern am Martinsrieder Max-Planck-Institut zufolge bilden sie zusammen mit dem Rezeptor Unc5 eine Gruppe von Leitproteinen mit gegensätzlicher Wirkung auf die Zellwanderung. Einerseits wirken sie abstoßend. Dies ist der Fall, wenn auf der Oberfläche der Vorläuferzelle ein FLRT-Molekül an einen Unc5-Rezeptor bindet. „Während der radialen Wanderung erhält die Vorläuferzelle so das Signal mit der angepassten Geschwindigkeit weiterzuwandern und nicht frühzeitig in äußere Schichten einzuwandern“, erklärt Rüdiger Klein vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Nervenzellen mit dem Unc5-Rezeptor senden ihre Axone in einer Zellkultur in alle Richtungen aus. Die Fortsätze vermeiden dabei weitgehend parallel zueinander angeordnete Bahnen, die das Leitprotein FLRT3 enthalten (rot). © Seiradake et al, Neuron 2014
Binden jedoch zwei gleiche FLRT-Moleküle aneinander, löst dies ein anziehendes Signal aus. Die Ergebnisse der Wissenschaftler belegen, dass sich die Vorläuferzellen auf diese Weise während der tangentialen Ausbreitung orientieren. Sie können dadurch in ihrer Zielschicht bleiben. Auf der Oberfläche der Pyramidenzellenvorläufer gibt es also Proteine mit anziehender und abstoßender Wirkung. „Die Zellen müssen diese gegensätzlichen Signale miteinander verrechnen und können so durch das Gehirngewebe navigieren. Während der radialen Wanderung überwiegt die Abstoßung, bei der tangentialen die Anziehung der FLRT-Proteine“, sagt Klein. In ihrer Studie haben die Wissenschaftler zudem die Oberflächenstruktur der FLRT-Proteine mithilfe von Röntgenstrukturanalysen untersucht. Dadurch konnten sie zeigen, dass die richtige Balance dieser Signale auch für die Wanderung anderer Zelltypen wichtig ist: Die Zellen in den Wänden von Blutgefäßen der Retina im Auge und der Nabelschnur werden ebenfalls von einem Zusammenspiel aus anziehenden und abstoßenden Signalen der FLRT- und Unc5-Proteine gesteuert. Originalpublikation: FLRT structure: balancing repulsion and cell adhesion in cortical and vascular development Elena Seiradake et al.; Neuron, doi: 10.1016/j.neuron.2014.10.008; 2014