Wer schlecht schläft, dem geht es schlecht – und Jugendliche, die unter Insomnie leiden, tendieren zu Selbstverletzungen. Könnte das Schlaf-Hormon Melatonin bei beiden Krankheitsbildern helfen?
Selbstverletzung ist bei Jugendlichen, die an psychischen Problemen und Krankheiten leiden, keine Seltenheit. Besonders betroffen sind Mädchen und junge Frauen mit einer fünfmal höheren Prävalenz für Selbstverletzungen und einer viermal höheren Prävalenz für Vergiftungen. Was auch oft mit psychiatrischen Diagnosen einhergeht, sind Schlafprobleme. Deswegen haben sich Wissenschaftler mit der Frage beschäftigt, ob man nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnte: Was wäre, wenn ein Medikament gegen beides hilft?
Insomnie hat einen großen Einfluss auf viele Lebensaspekte. Wissenschaftler fanden heraus, dass Schlaflosigkeit ein Risikofaktor für unbeabsichtigte Verletzungen sowie beabsichtigte suizidale und nicht-suizidale Selbstverletzungen bei Jugendlichen sein kann. Eine Verbesserung des Schlafs könnte demnach eventuell auch zu einer Verringerung des selbstverletzenden Verhaltens führen – so die Idee.
Melatonin ist ein entscheidender Bestandteil eines funktionierenden Schlaf-Wach-Rhythmus. Das Hormon ist außerdem das am häufigsten verschriebene Schlafmedikament bei Kindern und Jugendlichen in der von den Wissenschaftlern untersuchten schwedischen Studie. Das Medikament ist in Schweden, wie auch in Deutschland, rezeptfrei erhältlich. „Die Behandlung von Schlafproblemen wurde als ein mechanistisches Ziel vorgeschlagen, das das Risiko von Selbstverletzungen verringern könnte“, so die Studienautoren. Bisher gibt es keine veröffentlichten randomisierten klinischen Studien zur Pharmakotherapie bei selbstverletzendem Verhalten. Könnte Melatonin also helfen, selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen zu minimieren?
Eine schwedische populationsbasierte Registerstudie untersuchte die Daten von 25.575 (davon 58,2 % männlich) Kindern und Teenagern im Alter von 6–18 Jahren. Sie alle nahmen Melatonin ein (medianes Alter bei Melatonin-Ersteinnahme war 13 [9, 16] Jahre für Jungen und 15 [13, 17] Jahre für Mädchen). Durchschnittlich nahmen die Teilnehmer bei der Erstverschreibung 6,4 Monate lang Melatonin ein und 87 % der Probanden litten an zumindest einer psychiatrischen Erkrankung, die häufigste Diagnose war ADHS (53,9 %). Die Beobachtungszeit begann einen Monat vor Beginn der Medikation und endete ein Jahr nach Beginn der Behandlung. Zum Studienzeitpunkt war Melatonin in Schweden, anders als heute, ausschließlich verschreibungspflichtig erhältlich.
Die Forscher verglichen das Risiko zur Selbstverletzung derselben Personen mit und ohne Melatonin-Medikation. „Bei der Analyse von Selbstverletzungen und Vergiftungen stellten wir fest, dass sie in den letzten zwei bis drei Monaten ohne Medikation progressiv ansteigen – insbesondere bei Mädchen und im Monat unmittelbar vor dem Beginn der Medikation“, so die Studienautoren. Das Risiko sank in den ersten Behandlungsmonaten um etwa die Hälfte. Mädchen mit Depression und/oder Angststörungen profitierten besonders.
„Es ist möglich, dass eine Melatoninbehandlung das Risiko einer vorsätzlichen Selbstverletzung direkt reduziert, indem Schlafprobleme im Zusammenhang mit psychiatrischen Komorbiditäten, insbesondere Angst und Depression, behandelt werden“, so die Studienautoren. „Eine andere Möglichkeit ist, dass Melatonin eine Rolle bei der Schmerzmodulation spielen könnte und auf die verringerte Schmerzempfindlichkeit von Jugendlichen, die sich selbst verletzen, einwirkt.“
Es ist nicht auszuschließen, dass neben Melatonin andere umweltbezogene Faktoren, wie etwa eine erhöhte Aufmerksamkeit von Angehörigen, Therapeuten und behandelnden Ärzten, ebenfalls zur Reduktion der Selbstverletzung beigetragen haben. Da die Studie eine reine Beobachtungsstudie war, kann außerdem kein kausaler Zusammenhang zwischen Melatonin und einer geringeren Selbstverletzungsrate hergestellt werden. Trotzdem zeigen die Ergebnisse, dass die Behandlung von Schlafstörungen essenziell ist – vor allem im Zusammenhang mit Depression und Angstzuständen. Die Autoren betonen aber auch, dass weitere Studien erforderlich sind, um diese Ergebnisse zu bestätigen. Eine konservative psychotherapeutische Behandlung bleibt also wohl vorerst Behandlung der Wahl.
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