Das Muster des Wirtswechsels von Retroviren scheint komplexer zu sein als gedacht. Am Beispiel der Mausmakis auf Madagaskar zeigt ein Forscherteam jetzt, wie eng einige der Viren mit solchen verwandt sind, die in völlig anderen Säugetieren vorkommen.
Madagaskar beherbergt eine einzigartige Artenvielfalt mit einer großen Anzahl endemischer Arten, darunter zahlreiche Lemurenarten wie Mausmakis. Diese Vielfalt ist besonders beeindruckend bei ihren Retroviren, berichtet ein Wissenschaftsteam unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und der University of Stirling in der Zeitschrift Virus Evolution. Sie analysierten die Genome mehrerer Mausmaki-Spezies und identifizierten Viren zweier Klassen, die alte Infektionen der Keimbahn der Mausmakis darstellen. Die Viren verhalten sich nun ähnlich wie Lemurengene und werden daher endogene Retroviren (ERV) genannt. Überraschend war, dass einige der identifizierten Retroviren eng mit Viren verwandt sind, die in ganz anderen Säugetieren wie Eisbären oder Hausschafen vorkommen. Dies deutet auf ein sehr viel komplexeres Muster des Wirtswechsels von Retroviren hin.
Für ihre Analyse sammelte das Team Blutproben von vier Arten der auf Madagaskar heimischen Mausmakis und untersuchte sie mithilfe von Hochdurchsatz-Sequenzierungsverfahren. Die Wissenschaftler identifizierten zwei Gamma- und drei Betaretrovirus-Sequenzen im Genom der Makis, die auf sehr alte Infektionen in der Keimbahn der Mausmakis zurückgehen. Die Virus-DNA wurde in das Wirtsgenom der Mausmakis eingebaut, die Viren sind jedoch nicht mehr aktiv oder infektiös. „Wir waren überrascht, dass eine der beiden identifizierten Arten von Gammaretroviren mit einem ERV verwandt ist, welches bei Eisbären beschrieben wurde“, erklärt Dr. Sharon Kessler, Assistant Professor an der Universität von Stirling. Das Eisbärenvirus ist aus evolutionärer Sicht jung, während das Lemurenvirus sehr alt ist. „Wie diese verwandten Viren zeitlich und räumlich so weit voneinander getrennte Arten infizieren konnten, ist unklar“, sagt Kessler.
Weitere Überraschungen gab es bei den Betaretroviren. Das Jaagsiekte-Schaf-Retrovirus (JSRV) ist ein virulentes Retrovirus, das Hausschafe infiziert und dort endogene Retroviren bildet. Bislang galt, dass dieses Virus auf Hausschafe, -ziegen und deren Verwandte beschränkt ist – das Klon-Schaf Dolly musste nach einer JSRV-Infektion und der darauf folgenden Erkrankung eingeschläfert werden. Die Mausmakis hatten jedoch ein eng verwandtes JSRV-ähnliches Virus in ihrem Genom. „Dies deutet darauf hin, dass JSRV-ähnliche Viren unter Säugetieren weiter verbreitet und wesentlich älter sind als bisher angenommen. Warum sie bei so unterschiedlichen Arten punktuell auftauchen, ist sehr interessant und merkwürdig“, sagt Prof. Alex Greenwood, Leiter der Leibniz-IZW-Abteilung für Wildtierkrankheiten, in der die Probenuntersuchungen durchgeführt wurde.
In ähnlicher Weise identifizierte das Team in den Mausmakis ein Virus, das mit Retroviren verwandt ist, die bei Totenkopfaffen, Vampirfledermäusen und Beuteltieren vorkommen. „Diese Gruppe von Viren wird mit der Zeit immer interessanter, da immer mehr Beispiele ähnlicher Viren an vielen Orten gefunden werden, darunter auch sehr junge Viren, die möglicherweise noch infektiöse exogene Gegenstücke in der Natur haben“, sagt Greenwood.
Ein großer Teil der beobachteten Vielfalt der Retroviren in Mausmakis geht offenkundig auf Viren zurück, die nicht von Primaten stammen, was auf ein komplexes Muster viraler Wirtswechsel zu der Zeit hindeutet, als die Vorfahren der Mausmakis in Madagaskar entstanden. Weitere Untersuchungen zur viralen Vielfalt werden dazu beitragen, die offensichtlich komplexe Historie der retroviralen Übertragung unter Säugetieren zu klären.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: JACQUELINE BRANDWAYN, Unsplash