Die Patientin fleht mich an, sie könne auf keinen Fall mitfahren – wer kümmert sich sonst um ihren Kater? Ich habe dabei ein schlechtes Gefühl, denn sie ist gerade erst wieder bei Bewusstsein. Was jetzt?
Wenn Patienten nicht wollen, aber eigentlich müssten: Im Rettungsdienst werden wir täglich mit den verschiedensten Herausforderungen konfrontiert und müssen für das jeweilige Problem eine Lösung finden. Dabei geht es nicht immer um die Behandlung von Symptomen und die Findung einer möglichen Diagnose, oder das Abwenden akuter Lebensgefahr. Nein, oft sind es die organisatorischen, zwischenmenschlichen oder rechtlichen Belange, mit denen wir uns herumschlagen müssen. Ein Fall aus der Praxis.
Einsatz mit Sondersignal, ohne Notarzt. Eine ältere Dame hat ihren Hausnotrufknopf betätigt – jetzt höre man nur noch ein Stöhnen und Schreien. Kontaktaufnahme nicht möglich, ein Diabetes sei bekannt. Alle Alarmglocken in meinem Kopf läuten schrill, als ich die Bemerkung in der Einsatzmeldung lese.
Meine Kollegin und ich malen uns auf der Fahrt einige mögliche Szenarien aus und als wir ankommen, wird sehr schnell klar, eine der ungünstigsten Umstände, die wir uns ausgemalt haben, ist eingetroffen. Die Tür ist verschlossen, von innen keine Reaktion auf Ansprache. Was wir hören, ist ein lautes Schnaufen, wie das eines Tieres. Tief und gleichmäßig, ähnlich einer Kussmaul-Atmung, dann ein lautes, durchdringendes Stöhnen. Uns ist sofort klar, dass wir Unterstützung von der Feuerwehr brauchen, um die Tür zu öffnen. Das Einzige, was mir etwas Sicherheit gibt, ist die Tatsache, dass die Patientin offensichtlich zu atmen scheint – das ist gut!
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der wir versuchen, die Patienten weiterhin anzusprechen und im Kopf die nächsten Schritte durchgehen, trifft die Feuerwehr ein und kurz darauf geht alles ganz schnell.
Die Tür ist offen – freie Bahn, Lageerkundung. Wir folgen dem lauten Schnaufen und finden im Wohnzimmer die Patientin vor. Sie liegt auf dem Boden, der Blick starr, die Kleidung durch den kalten Schweiß vollkommen durchnässt und an den Nasenflügeln Rückstände von getrocknetem Blut.
Was ist hier passiert? Vermutlich ist die Patientin gestürzt, aber auch ein einfaches Nasenbluten ist möglich. Sie bewegt selbstständig alle Extremitäten und wir können keine weiteren offensichtlichen Verletzungen von außen feststellen, aber aufgrund der Position und der Brille, die auf dem Boden liegt, ist ein Sturzgeschehen wahrscheinlich.
Die Frage ist allerdings: Ist sie aufgrund des aktuellen Zustandes gestürzt? Oder ist der jetzige Zustand eine Folge des Sturzes? Wieder heißt es: Trichter füllen und mögliche Diagnosen sammeln. Auch wenn wir von Beginn an den Diabetes im Hinterkopf haben, dürfen wir uns nicht auf eine Diagnose versteifen. Es wäre nicht die erste Person, die mehrere Probleme auf einmal hat, oder etwas völlig anderes. Sich vom Offensichtlichen blenden zu lassen, kann zu Fehlern führen.
Das Arbeiten nach Schemata hilft uns daher, nichts zu vergessen, oder zu übersehen. Wenn wir ein Problem feststellen, wird es sofort behandelt. Bei kritischen Patienten wird in der Regel parallel gearbeitet. Während also einer das Schema abarbeitet und die Ergebnisse kommuniziert, erhebt der andere die Vitalwerte und arbeitet zu.
Bei bewusstlosen Patienten, zu denen auch diese Patientin gehört, da sie zwar stöhnt, aber auf keinerlei Reize von außen reagiert, wird auch sehr zügig der Blutzucker gemessen – eine Hypo- oder Hyperglykämie ist einer der Gründe, warum ein Mensch bewusstlos oder bewusstseinsgemindert sein kann. Dazu würde passen: Der bekannte Diabetes (Typ bis dato unklar) und der Insulinpen, den wir beim Auffinden in der fest zur Faust geballten Hand der Patientin entdecken. Alle Gliedmaßen sind verkrampft, mit ihrer Faust schlägt sie ungezielt um sich. Keine Chance, in die Augen zu sehen, um die Pupillen zu beurteilen, da sie diese fest zusammenkneift. Sie spuckt, stöhnt und ihre Haut ist schweißnass.
Auch das Messen des Zuckerwertes ist schwierig, da die Patientin völlig agitiert ist. Dann das Ergebnis: 21mg/dl – Unterzuckerung! Unser Verdacht bestätigt sich sehr schnell. Der nächste Schritt ist ein Zugang in die Vene, doch die Patientin tritt und schlägt weiterhin um sich.
Da kommt die Feuerwehr wieder ins Spiel. Mit Hilfe von zwei Kollegen fixieren wir die Extremitäten der Patientin am Boden, sodass wir nach möglichen Punktionsorten schauen können. Nichts! Kein gut sicht- oder tastbares Gefäß, nur an den Händen finden wir ein paar kleine, verschnörkelte Venen. Also los! Einige Fehlversuche und eine Notarztalarmierung später liegt der Zugang und zwar sicher. Die Glasampulle mit der Glucose rennt im Schuss und wurde mit einem Drei-Wege-Hahn konnektiert, der zusätzlich zur Glucose eine kristalloide Lösung einschwemmt, um eine Venenreizung zu minimieren.
Der Zustand der Patientin bessert sich rasch. Die Atmung normalisiert sich und nachdem die Infusion komplett verabreicht ist, öffnet sie die Augen und fixiert uns. Während der gesamten Zeit ist diese Patientin nicht allein. Immer in ihrer Nähe hält sich ihr treuer Kater auf – nennen wir ihn Felix.
Felix sitzt völlig verängstigt und eingeschüchtert von Beginn unserer Maßnahmen an auf einem kleinen Kratzbaum. Seine Pupillen sind riesig und er hat sichtlich Panik, doch keine Spur von Aggressivität. Er dreht sich irgendwann rum, streckt uns seinen Popo zu und hofft wohl darauf, dass diese vielen Menschen in den bunten Klamotten ihn einfach nicht wahrnehmen.
„Felix“, ist das erste Wort, das unsere Patientin von sich gibt. Und dann: „Geht es ihm gut?“ Sie setzt sich auf und ist sichtlich erleichtert, als sie ihren Kater erblickt. Erst dann fragt sie uns, was passiert ist. Nun können wir doch eine Anamnese starten. Natürlich lassen wir der Patientin Zeit, sich zu sammeln, aber dann finden wir mit gezieltem Fragen Stück für Stück heraus, was passiert ist. Mittlerweile ist auch der Notarzt eingetroffen und gemeinsam setzen wir ein Bild zusammen. Dann beratschlagen wir, wie es weitergeht.
Die Patientin wurde vor Kurzem neu eingestellt und bekam ein neues Insulin-Schema. Es ist das zweite Mal, dass ein RTW kommen muss. Die Patientin gibt an, sich wie immer ihr Kurzzeit-Insulin zum Essen gespritzt zu haben, dabei war der Blutzuckerwert im Vorhinein schon relativ niedrig. Sie erzählt uns, dass sie den Wert den ganzen Tag über nicht wirklich rauf bekommen hat, obwohl sie Chips gegessen habe. Die Frau wirkt sehr aufgelöst und entschuldigt sich tausendfach für die Umstände, die sie uns gemacht hat.
Sie verspricht uns hoch und heilig, nun etwas zu essen, denn mit ins Krankenhaus möchte sie nicht. Wegen Felix! Er ist ihr Ein und Alles. Sie möchte ihn gut versorgt wissen und hat sonst niemanden, der sich um ihn kümmern kann.
Wir erklären ihr, dass es notwendig ist, sich im Krankenhaus einmal durchchecken zu lassen, allein schon wegen dem fraglichen Sturz aufs Gesicht bzw. den Kopf. Die Dame nimmt Antikoagulanzien, was eine intracranielle Blutung begünstigen kann. Vor Ort können wir das nicht ausschließen.
Wir versuchen, ihr behutsam zu erklären, dass es besser wäre, mitzukommen und sich untersuchen zu lassen. „Nein, bitte! Bitte lassen Sie mich hier!“ Die Dame beginnt, zu weinen. Sie fleht uns an. Ihre Sorge gilt nicht ihr selbst, sondern ihrem treuen Kater. „Er ist der einzige, den ich habe! Meine Familie kümmert sich nicht mehr um mich.“
Ich muss schlucken, als ich das höre. Es ist wie so oft. Ein Mensch, gezeichnet vom Leben und krank, einsam und völlig auf sich allein gestellt. Niemand hätte diese Frau gefunden, wenn sie einfach still unterzuckert wäre. Niemand! Hätte diese Dame nicht noch selbst ihren Hausnotrufknopf gedrückt, dann wäre sie vermutlich in ihrer Wohnung verstorben. Einsam und allein.
Und die Nachbarn? Tja, die reagierten nicht einmal auf das laute Stöhnen der Patientin, was schon im Flur zu hören war. Noch nicht einmal dann, als die Feuerwehr die Tür gewaltsam öffnete. Wie in den meisten großen Mehrfamilienhäusern lebt man oft isoliert. Teilweise kennt einer den anderen nicht einmal – höchstens vom Sehen.
Wie traurig, dass solche Schicksale leider keine Seltenheit sind. Mein Herz blutet. „Wissen Sie, ihr Felix braucht Sie doch! Sie können nur für ihn da sein, wenn es Ihnen gut geht.“ Ich versuche es mit Engelszungen. „Mir geht’s doch wieder gut“, entgegnet sie.
„Ja, für den Moment. Aber Ihr Zuckerwert sinkt gerade schon wieder und wir wissen nicht, wie viele Einheiten Sie gespritzt haben. Was, wenn Sie wieder in den Unterzucker fallen?“ Sie beteuert: „Tu ich nicht, versprochen!“ Es ist leider oft so, dass Patienten uns nach einer Hypoglykämie nicht begleiten wollen. In den meisten Fällen finden wir eine Lösung. Auch hier?
Die Frage ist, ob eine Patientin, die gerade eben noch massiv unterzuckert war, kurz nach dem Aufklaren durch Glucosegabe schon wieder so orientiert ist, dass sie auch entscheidungsfähig ist. Grundsätzlich kann jeder Patient selbst entscheiden, ob er einer Behandlung oder einem Transport zustimmt. Schwierig wird es jedoch, wenn der Zustand so ist, dass eine Entscheidungsfähigkeit nicht sicher gegeben ist.
Die weitere Frage ist auch, ob sich Patienten ihres Zustands wirklich bewusst sind oder ob man sie darüber womöglich aufklären muss und sollte. Ja, sollten wir – und ja, müssen wir. Wir sollten dabei möglichst auf Fachwörter verzichten und es so erklären, dass es auch Laien verstehen.
„Wir kümmern uns um Ihren Kater! Wir füttern ihn und geben ihm frisches Wasser, dann ist er bis morgen auf jeden Fall versorgt. Ich glaube, Felix ist froh, wenn es Ihnen wieder gut geht, er hat die ganze Zeit auf Sie aufgepasst. Wir versprechen Ihnen, dass wir dafür sorgen, dass es ihm gut geht.“ Ich versuche, die völlig aufgelöste Patientin zu beruhigen. Der Blutzuckerspiegel fällt derweil wieder ab. Unmittelbar nach der Glucosegabe konnten wir einen Wert von 170mg/dl erheben. Jetzt liegt er schon wieder „nur“ bei 120mg/dl, das gesamte Team hat daher Bauchschmerzen und möchte diese Patientin auf keinen Fall zu Hause lassen, da sind wir uns alle einig.
Es geht nicht darum, den Willen eines Menschen zu brechen und ihn gegen seinen Willen in ein Krankenhaus zu fahren, aber einen Menschen zu Hause zu lassen, der sich vermutlich einfach nicht im Klaren ist, wie es um seinen Zustand steht, ist meiner Meinung nach falsch. Das sieht Gott sei Dank auch der Notarzt so, sodass wir gemeinsam nochmal all unsere Überredungskunst an den Tag legen und die Patientin letztendlich einwilligt. Wie versprochen füttern wir den Kater und geben ihm frisches Wasser, dann leiten wir den Transport in die Klinik ein.
Manchmal sind es die kleinen Dinge, die einem Menschen so viel geben und wichtige Entscheidungen beeinflussen. In diesen Fall ist es die Angst um das Haustier, das man über alles liebt und was einem noch einen Sinn im Leben gibt. Manchmal müssen wir uns einfach darauf einlassen, emphatisch sein und gemeinsam Lösungswege finden – zum Wohle des Patienten.
Der Einsatz ging übrigens gut aus. Die Patientin erholte sich ein paar Tage im Krankenhaus. Sie hatte keine weiteren Verletzungen durch den Sturz davongetragen und tatsächlich konnte jemand gefunden werden, der sich für die Zeit des Krankenhausaufenthaltes um den treuen Kater Felix kümmerte.
Ende gut, alles gut.
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