Ein Mädchen klappt plötzlich beim Zahnarzt zusammen. Der eintreffende Rettungsdienst ist verwirrt – eine 16-Jährige mit Herzinfarkt? In der Klinik zeigt sich dann die tragische Diagnose.
Wie die meisten Menschen mit Löchern in den Zähnen mochte auch Lea Besuche beim Zahnarzt noch nie. Aber trotz allem half es nichts – das Loch würde nicht von selbst zuwachsen. Sie betrat die Praxis und setzte sich in das Wartezimmer. Immer wieder griff sie sich an die Brust, wie eine Zeugin später berichtete. Sie habe dem Zustand des Mädchens aber keine Bedeutung beigemessen und deswegen auch nicht nachgefragt. Schließlich sei das Mädchen noch so jung gewesen, wie sollte sie denn schon etwas am Herzen haben? Dass die Palette an möglichen Erkrankungen so breit ist wie ein Fußballfeld, kam der Zeugin nicht in den Sinn.
Als der Zahnarzt Leas Gesichtsfarbe sah, wusste er, dass der Tagesablauf unfreundlich vom Plan abweichen würde. Ihre Haut war blass wie abgerahmte Milch, die Lippen bläulich-grau, sie hatte Schweißperlen auf der Stirn, die Augen waren halb geschlossen, wie auf einem Foto, bei dem der Fotograf im falschen Moment auf den Auslöser drückt. Der Zahnarzt signalisierte seiner Helferin, den Notfallplan der Praxis zu aktivieren – dieser sollte in jeder medizinischen Einrichtung existieren. Die Helferin griff zum Telefon. Der Disponent schickte mich und meine Kollegen gleich zusammen mit dem Notarzt auf den Weg.
„Sie wurde plötzlich blau. Dann griff sie sich an die Brust“, sagte der Zahnarzt, der schon Sauerstoff über eine Nasenbrille gab. Kein A-Problem, ein unzureichend behandeltes B-Problem. Im Rahmen der C-Untersuchung hörte ich das Herz ab, das sich überschlug. Die Frequenz lag geschätzt bei deutlich über 200 Schlägen pro Minute. Wir tauschten die Nasenbrille gegen eine Sauerstoffmaske aus. „Schließ gleich die Defi-Patches an“, sagte ich zu meiner Kollegin, die diese längst aufgerissen hatte. Lea sah ins Leere, als ich sie mit dem Notarzt zusammen aus dem Behandlungsstuhl hob und auf den Boden legte.
Die erste Defibrillation mit 200 Joule zeigte Erfolg. Der Herzrhythmus konvertierte in einen Sinusrhythmus. Als wir ein 12-Kanal-EKG ausdruckten, konnten wir unsere Überraschung kaum verbergen: Lea zeigte ST-Hebungen in den linkspräkordialen Ableitungen. Für uns bedeutete dies, dass wir hier eine sechzehnjährige Patientin mit Verdacht auf einen akuten Vorderwandinfarkt vor uns hatten. Die Behandlung erfolgte nach damaligen Leitlinien. 500 mg Acetylsalicylsäure, 5.000 Einheiten Heparin, zwei Milligramm Morphin, Noradrenalin über den Perfusor wegen des kardiogenen Schocks und des damit verbundenen miesen Blutdrucks. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Was war passiert? Wieso bei so einem jungen Menschen? Und dann noch ein Herzinfarkt? Konnte das wirklich sein?
Leider stand kein pädiatrisches Herzzentrum zur Verfügung und so mussten wir auf ein Haus mit interner Aufnahmekapazität ausweichen. Das Haus des Pädiaters platzte aus allen Nähten. Er schien angefressen und schüttelte den Kopf: „Ein Herzinfarkt? Bei ihr? Das ist doch Bullshit“, sagte er in unsere Richtung. Ich hielt ihm jedoch unseren Ausdruck unter die Nase. „Das ist von ihr?“, fragte er dann, die Augen weit geöffnet. Ich nickte. Sein Blick glitt wieder auf den rosafarbenen EKG-Ausdruck. Die inzwischen eingetroffene Mutter sagte, Lea hatte keinerlei Vorerkrankungen. Kerngesund also.
In der Klinik ging die Suche nach der Ursache los. Die Herzkatheter-Untersuchung zeigte sich unauffällig. Das EKG wies jetzt keine Hebungen mehr auf, sondern nur noch T-Inversionen. Die QT-Zeit lag bei verlängerten 510 Millisekunden. Dazu kam der gleich zu Beginn durchgeführte Troponin-Test. Er zeigte zwei Streifen. Aber was genau kam in Frage, wenn keine Koronararterie auch nur annähernd verschlossen war? Dann kam das Ergebnis des kardialen Markers aus dem Labor: Der NT-proBNP-Serumwert lag bei deutlich über 100 pg/ml. Er ist erhöht, wenn ein akuter Myokardinfarkt oder eine instabile Angina Pectoris vorliegen. Oder eine dilatative Kardiomyopathie.
Ein Herz-Echo brachte dann die endgültige Gewissheit. Die linke Herzkammer erinnerte am Ende der Systole an eine japanische Tintenfischfalle mit kurzem Hals, auch bekannt unter dem Namen Tako-Tsubo. Lea litt an einem Tako-Tsubo- oder Broken-Heart-Syndrom und wäre beinahe daran gestorben. Aber wieso? Wie kam es dazu?
Die Stress-Kardiomyopathie unterliegt möglicherweise auch genetischer Disposition. Diese Erkenntnis entstammt einer auf der DGK-Jahrestagung präsentierten genomweiten Assoziationsstudie. Sie ist eine seltene, aber lebensgefährliche Erkrankung und tritt meistens bei Frauen oberhalb des fünfzigsten Lebensjahres auf – aber eben nur meistens. Jeder zehnte Patient liegt darunter und erleidet einen foudroyanten Verlauf als Folge emotionalen oder physischen Stresses.
Die Symptome ähneln denen eines Herzinfarkts, einschließlich Brustschmerzen, Kurzatmigkeit und tachykarden Episoden. Die Ursache des Tako-Tsubo-Syndroms ist jedoch anders als beim Herzinfarkt, da kein Verschluss der Herzkranzgefäße vorliegt. Stattdessen führt eine stressinduzierte übermäßige Katecholaminausschüttung zu einer Funktionsstörung des Herzmuskels. Diese beeinträchtigt das Herz und kann zu einer Vergrößerung der linken Herzkammer führen.
Bei Lea begann dieser Zustand mit einem Verkehrsunfall vier Wochen vor dem Ereignis in der Zahnarztpraxis. Sie und ihr Freund prallten auf einer Landstraße nach einem misslungenen Ausweichmanöver gegen einen Baum. Lea überlebte zwar leicht verletzt, aber vom Beifahrersitz aus blickte sie in das leere Gesicht ihres Freundes. Sie sah, wie verzweifelte Helfer zentimeterlange Nadeln zur Entlastung in seinen Brustkorb rammten, unnatürlich verdrehte Extremitäten geradezogen und Blut aus der Lunge absaugten, beatmeten, reanimierten. Der Hubschrauber landete und der Notarzt sah keine Aussicht auf Erfolg. Er deckte ihren Freund zu und auch das musste Lea mitansehen.
Meistens bleibt nach so einem schweren Unglück ein emotionales Trauma, aber manchmal entsteht eben auch ein physischer Schaden mit schwerwiegenden Komplikationen – so wie bei Lea. Der dramatische Verlust ihres Freundes hätte auch sie beinahe das Leben gekostet.
Quellen
Cammann V et al. Age-Related Variations in Takotsubo Syndrome; J Am Coll Cardiol. 2020:75(16):1869-1877. DOI: 10.1016/j.jacc.2020.02.057.
Wittstein I. Why Age Matters in Takotsubo Syndrome. J Am Coll Cardiol. 2020 Apr, 75 (16):1878-1881; DOI: 10.1016/j.jacc.2020.03.030.
Eitel et al. Genome-wide association study in takotsubo syndrome – preliminary results and future directions. Int J Cardiol 2017; DOI: 10.1016/j.ijcard.2017.01.093.
Abstract Eitel et al. Genome-wide association study in takotsubo syndrome – preliminary results and future directions. Clin Res Cardiol 106, Suppl 1 April 2017, 83. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), 19. bis 22. April 2017, Mannheim.
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