Trichotillomanie und Exkoriationsstörungen schränken das Leben der Betroffenen massiv ein. Erstmals könnte jetzt ein eigentliches Alzheimer-Medikament Abhilfe schaffen und dabei besser wirken als eine Verhaltenstherapie.
Die Behandlung mit dem Medikament Memantin führte bei Patienten mit Trichotillomanie – eine Störung, bei der die Betroffenen dem Drang, sich die Haare auszureißen, nicht widerstehen können – und der Störung des Hautausreißens – auch als Exkoriationsstörung bekannt – zu erheblichen Verbesserungen im Vergleich zu einem Placebo. Das zeigt eine aktuelle Studie der University of Chicago Medicine, die in The American Journal of Psychiatry veröffentlicht wurde.
Gegenwärtig gibt es keine von der US-Arzneimittelbehörde zugelassene medikamentöse Behandlung für diese Störungen, die offensichtlichen Haarausfall und Hautschäden, emotionalen Stress und eine eingeschränkte Sozialfähigkeit zur Folge haben können, sagt der Studien-Hauptautor Jon Grant, Professor für Psychiatrie und Verhaltensneurowissenschaften an der University of Chicago Medicine. „Das Selbstwertgefühl einer Person wird durch diese Verhaltensweisen stark beeinträchtigt, so dass sie zum Beispiel nicht zu Vorstellungsgesprächen geht. Sie haben vielleicht nicht das soziale Leben, das sie sich wünschen“, so Grant.
Trichotillomanie und die Exkoriationsstörung oder Skin Picking Disorder werden als zwei verschiedene Diagnosen betrachtet, haben aber viele Gemeinsamkeiten. Eine kognitive Verhaltenstherapie ist die erste Wahl bei der Behandlung. Aber es kann schwierig sein, Therapeuten zu finden, die sich mit diesen Störungen auskennen, so Grant. „Die Menschen haben oft das Gefühl, dass sie den Therapeuten erziehen müssen.“
Die Forscher wurden auf Memantin aufmerksam, nachdem Grant und sein Team bei Personen mit einer der beiden Störungen desorganisierte Bereiche der weißen Substanz in bestimmten Teilen des Gehirns festgestellt hatten, die motorische Gewohnheiten kontrollieren. Die Ergebnisse deuten auf eine Beteiligung des Neurotransmitters Glutamat hin, eine der führenden Theorien zur Neurobiologie von Zwangsstörungen, so Grant. Wenn es um Medikamente geht, „haben wir nicht viele Möglichkeiten, um Glutamat im Gehirn zu modulieren“, sagt er.
Grant entschied sich für Memantin, das zur Behandlung von Gedächtnisverlust und Denkstörungen bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit zugelassen ist und bereits bei verschiedenen psychiatrischen Störungen eingesetzt wurde. Es wird von den Patienten gut vertragen und hat kaum ernsthafte Nebenwirkungen. Während Grant Memantin für Trichotillomanie und Exkoriationsstörungen untersuchte, wurde einem anderen seiner Patienten das Medikament aus einem anderen Grund verschrieben. „Es kam eher zufällig. Eines Tages sagte mein Patient zu mir: Wow, das hat mich davon abgehalten, an meinen Haaren zu ziehen“, so Grant.
An der Studie der University of Chicago nahmen 100 Erwachsene mit Trichotillomanie oder einer Exkoriationsstörung teil. Acht Wochen lang bekamen die Probanden der Doppelblindstudie entweder Memantin oder Placebo. Die Forscher bewerteten die Patienten alle zwei Wochen anhand der Trichotillomania Symptom Severity Scale des National Institute of Mental Health. Sie erfassten auch Veränderungen anhand von vier anderen selbstberichteten und von Ärzten beobachteten Berichten über Symptome und Verhaltensweisen. Die Patienten wurden aufgrund der COVID-19-Pandemie virtuell beobachtet. Neunundsiebzig Teilnehmer schlossen die Studie ab. Zwei brachen die Studie ab, nachdem sie über Schwindelgefühle während der Einnahme des Medikaments berichteten.
Nach acht Wochen war bei 26 der 43 Studienteilnehmer, die Memantin einnahmen, eine deutliche oder sehr deutliche Verbesserung zu verzeichnen, verglichen mit drei der 36 Teilnehmer, die ein Placebo einnahmen. Bei sechs Personen in der Memantingruppe und einer in der Placebogruppe waren die Symptome vollständig verschwunden.
Eine Analyse ergab, dass Memantin wirksamer ist als andere bisher untersuchte Behandlungen – darunter Verhaltenstherapie, das Medikament Olanzapin (das zur Behandlung von Schizophrenie und bipolaren Störungen eingesetzt wird), das Medikament Clomipramin (das zur Behandlung von Zwangsstörungen eingesetzt wird) und N-Acetylcystein. Diese Vergleiche deuten darauf hin, dass Memantin bei der Behandlung dieser Erkrankungen als eine der Verhaltenstherapie gleichwertige Erstbehandlung angesehen werden könnte, so die Studie.
Laut Grant weisen die Ergebnisse auf mehrere zusätzliche Forschungsbereiche hin, darunter die Kombination von Memantin mit Verhaltenstherapie oder mit N-Acetylcystein, die sich in früheren Studien als vielversprechend erwiesen hat. Auch die längerfristige Anwendung von Memantin und unterschiedliche Dosierungen seien potenzielle Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen. „Die Ergebnisse haben gezeigt, dass das Medikament mehr geholfen hat als das Placebo, was mich sehr gefreut hat, aber es zeigt mir auch, dass es noch viel mehr zu tun gibt“, sagt Grant. „Obwohl die Ergebnisse vielversprechend sind, handelt es sich nur um eine sehr kleine Minderheit von Menschen, bei denen die Symptome vollständig verschwanden.“
Dennoch gaben einige Studienteilnehmer an, dass sie beabsichtigten, sich von ihrem Hausarzt Memantin verschreiben zu lassen, um die Behandlung mit dem Medikament fortzusetzen. „Einige Leute kamen mit dem Gedanken: Nichts konnte mir helfen. Einige von ihnen erkannten am Ende, dass dieses Medikament anders ist“, konkludiert Grant.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung des University of Chicago Medical Center. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Ryan Snaadt, unsplash