Muskelschmerzen und Fieber nach COVID-19-Impfungen lassen sich nicht nur immunologisch erklären. Welche Rolle der Nocebo-Effekt dabei spielt, lest ihr hier.
Corona und kein Ende? Das Robert Koch-Institut nennt auf seinem Dashboard Sieben-Tage-Inzidenzen von gerade einmal 25 Infektionen pro 100.000 Einwohner – doch Experten wie Immunologe Prof. Carsten Watzl von der TU Dortmund sprechen von einer zehnfach höheren Dunkelziffer. Auch heute noch sind schwere Erkrankungen möglich, vor allem für Ungeimpfte mit Vorerkrankungen oder für Hochbetagte.
Bleibt als Problem: In Deutschland sind 18,4 Millionen Menschen nicht geimpft. Das entspricht 22,1 % der Bevölkerung. Woran es liegen könnte, ist ein heißes Thema der Forschung. Viel deutet auf starke Nocebo-Effekte hin.
Dazu ein Blick in klinische Studien. Julia Haas von der Harvard Medical School und Kollegen haben die wissenschaftliche Literatur gesichtet. Sie fanden 12 Artikel mit insgesamt 45.380 Teilnehmern. Zwar gab es in den Verum-Gruppen signifikant mehr Reaktionen. Das Verhältnis zwischen Placebo- und Impfstoffarmen zeigte jedoch, dass Nocebo-Antworten 76 % der systemischen Reaktionen nach der ersten COVID-19-Impfstoffdosis und 51,8 % nach der zweiten Dosis ausmachten.
„Bedenken hinsichtlich möglicher unerwünschter Wirkungen von Impfungen gelten als wichtiger Faktor für das anhaltende Problem der Impfskepsis“, schreiben Dr. Ingmar Schäfer vom UKE Hamburg und Kollegen. Sie wollten wissen, ob Erwartungen hinsichtlich der Impfung mit systemischen Nebenwirkungen bei Personen verbunden sind.
Für ihre Längsschnitt-Kohortenstudie haben sie Probanden in einem Hamburger COVID-19-Impfzentrum rekrutiert. Dort gaben Ärzte Impfwilligen BNT162b2 (Pfizer-Biontech) oder mRNA-1273 (Moderna). Alle Probanden hatten bereits ihre erste Dosis erhalten und kamen für die zweite Dosis ins Impfzentrum.
Das Studienteam kontaktierte im Zuge der Impfung 7.771 Personen. Sie mussten sieben Tage lang einmal täglich Angaben zu zwölf Symptombereichen machen. 5.370 antworteten nicht, 535 machten unvollständige Angaben und 188 wurden nachträglich ausgeschlossen. Damit lagen Angaben zu Nebenwirkungen von 1.678 Personen vor. Alle Daten wurden mit statistischen Tools ausgewertet.
Ein Blick auf die Ergebnisse: Das Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen war für Personen, die einen hohen Nutzen der Impfung erwarteten, deutlich niedriger (Odds Ratio [OR] 0,72, 95 % KI 0,63–0,83, P < 0,001. Wer eher mit Nebenwirkungen rechnete, hatte auch ein höheres Risiko für Symptome (OR 1,39, 95 % KI 1,23–1,58, P < 0,001).
Kam es nach der ersten Impfung zu Beschwerden, war das Risiko nach der zweiten Impfung ebenfalls höher (OR 1,60, 95 % KI, 1,42–1,82, P < 0,001). Recht überraschend traten mehr Beschwerden auf, falls Personen als Impfstoff mRNA-1273 anstelle des zum Studienzeitpunkt wesentlich beliebteren Vakzins BNT162b2 bekamen (OR 2,45, 95 % KI 2,01–2,99, P < 0,001). Nicht zuletzt spielte es auch eine Rolle, ob Personen harmlose körperliche Reaktionen schnell als bedrohlich oder gefährlich einstufen. Dies lässt sich anhand der Somatosensory Amplification Scale messen. Höhere Punktwerte waren mit mehr Nebenwirkungen nach der zweiten Impfung assoziiert (OR 1,21, 95 % KI 1,06–1,38, P = 0,004).
Als Einschränkung bleibt unter anderem die Gefahr einer Verzerrung, falls bestimmte Personengruppen – etwa Menschen mit starker Somatisierung – nicht an der Studie teilgenommen haben. Außerdem waren in der Kohorte vergleichsweise viele Probanden mit Hochschulausbildung.
Was lässt sich dennoch aus den Ergebnissen ableiten? Soziopsychologische Risikofaktoren lassen sich, anders als medizinische, relativ leicht modifizieren. Zu den wirksamen Strategien gehören bessere Informationen über Nocebo-Effekte, was in dieser Form bislang nicht geschehen ist – praxisnah und nicht akademisch.
Ein Beispiel der Autoren: „Sich Sorgen über mögliche Nebenwirkungen zu machen, kann Bedenken wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung verstärken. Menschen, die Placebos in klinischen Studien einnehmen, berichten häufig über Nebenwirkungen und ordnen harmlose körperliche Empfindungen fälschlicherweise dem Impfstoff zu.“
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