Die Aufzeichnung fetaler Herztöne bleibt ein medizinischer Meilenstein. In anderen Ländern wird die rein schematische Auswertung durch eine individuelle Interpretation ergänzt. Welche Vorteile bietet das?
Die Entwicklung der Kardiotokografie (CTG) reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Heute zeichnen moderne CTG-Geräte neben der fetalen Herzaktion den mütterlichen Puls, uterine Kontraktionen und Kindsbewegungen auf. Die Untersuchungen können im Schwangerschaftsverlauf ab Ende des zweiten Trimenons und während der Geburt erfolgen. Neben der üblichen externen Ableitung über die mütterliche Bauchhaut gibt es die Möglichkeit der internen Ableitung bei geöffneter Fruchtblase.
Laut der aktuellen S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ wird ein CTG nach dem FIGO-Score in normal, suspekt oder pathologisch eingeordnet. Kategorisiert wird nach den Kriterien:
Wird ein CTG als normal interpretiert und keine fetale Hypoxie erwartet, wird von geburtshilflichen Interventionen abgesehen. Bei suspektem CTG sollten Überwachung und Diagnostik engmaschiger verlaufen und weiterführende konservative Maßnahmen erfolgen. Ein pathologisches CTG, etwa eine Verschiebung der Baseline unter 110 SpM, auffällige Oszillationsmuster und repetitive, suspekte Dezelerationen erfordern ein kaskadenförmiges Vorgehen bis hin zur raschen Geburtsbeendigung.
Kritiker sehen darin ein zu schematisches Vorgehen, das sich zu wenig an den klinischen Kontext, wie etwa einem Gestationsdiabetes oder einer fetalen Wachstumsretardierung, orientiert. Weiterhin würden Veränderungen im Geburtsverlauf zu wenig berücksichtigt.
Insbesondere in Großbritannien, aber auch anderen europäischen Ländern, weicht man immer mehr von der rein schematischen Mustererkennung zu Gunsten einer physiologischen CTG-Interpretation (PCI) ab. Hierbei werden die individuellen Gegebenheiten von Mutter und Kind stärker berücksichtigt und die physiologischen Mechanismen der intrapartalen Hypoxie-Entstehung in den Vordergrund gestellt.
Im Mittelpunkt stehen die Ursachen der pathologischen Abweichungen und die Interpretation gründet auf einem ganzheitlicheren Blick. Entwickelt hat die PCI Prof. Edwin Chandraharan, Consultant im Basildon University Hospital in London. Man kennt aus der Physiologie die Reaktionsmuster auf hypoxischen Stress und kann damit fetale Reaktionen, die im CTG abgebildet werden, adäquater deuten und entsprechend reagieren. Durch diese physiologische Interpretation des CTGs werden unnötige operative Interventionen vermieden und das kindliche Outcome durch weniger Hypoxie-Ereignisse verbessert.
Eine Geburt bedeutet Stress für Mutter und Kind. Das Kind begeht gleichsam einen Marathonlauf, den es durch verschiedene Anpassungsvorgänge mehr oder weniger gut meistern kann. Ziel ist dabei die Einsparung oder Umverteilung von Sauerstoff, um lebenswichtige Organe zu schützen. Die zu beobachtenden CTG-Veränderungen bilden physiologische Reaktionen auf hypoxischen Stress ab.
Der Druck auf die Nabelvene führt zu einer Volumenreduktion im kindlichen Kreislauf, was das Kind über eine kurzfristige Tachykardie kompensiert. Werden auch die Nabelarterien eingeengt, verursacht der Rückstau einen kurzfristigen Anstieg des intravasalen Drucks. Über fetale Karotis-Rezeptoren kommt es zur reflexartigen Bradykardie durch Reizung des Vagusnervs, die sich schnell wieder erholen kann.
Im CTG sieht man eine Dezeleration als physiologische Antwort des Kindes auf die verminderte Nabelschnurdurchblutung. Das Herz spart dadurch Energie. Solange zwischen den Wehen genug Zeit zur Reoxygenierung ist (Abstand zwischen den Wehen mehr als 90 Sekunden), bleibt die Baseline stabil und die Oszillation weiterhin gut. Reicht diese Form der Kompensation nicht mehr aus, etwa bei zu häufiger Wehentätigkeit, setzt die Dekompensation in Form einer langsam entstehenden fetalen Hypoxie ein. Baseline, Oszillation und Dezelerationsformen reagieren dementsprechend und münden in den pathologischen Bereich.
Es kommt zunächst zu einer Unterversorgung mit sauerstoffhaltigem Blut. Die Übersäuerung des fetalen Blutes führt über Chemorezeptoren physiologisch zu einem Abfall der fetalen Herzfrequenz. Hält der hypoxische Stress an, werden Katecholamine ausgeschüttet, die zu einer fetalen Tachykardie führen. Im CTG zeigt sich ein Anstieg der Baseline (mehr als 10 %) als erstes Zeichen einer Dekompensation.
Spätestens jetzt muss eine Stressreduktion erfolgen, entweder durch Reduktion der Oxytocin-Dosierung und/oder durch eine medikamentöse Tokolyse. Die Wehenpausen sollten mehr als 90 Sekunden betragen. Schreitet der Dekompensationsprozess fort, zeigt das CTG einen Oszillationsverlust oder eine saltatorische Komponente (Zick-Zack). Die Dezelerationen werden plötzlich flacher, der normale Schlaf-Wach-Rhythmus (Cycling) entfällt. Letztlich folgt eine Myokardschädigung und die fetale Herzfrequenz fällt sukzessiv ab. Eine zunächst subakute Hypoxie-Form mündet in eine existentielle Bedrohung.
Ob etwas normal, suspekt oder pathologisch ist, kann nicht alleine tabellarisch entschieden werden. Von Bedeutung sind auch das Gestationsalter und der Geburtsfortschritt. Entscheidende maternale Faktoren wie Gestationsdiabetes, Präeklampsie, Fieber, Elektrolytverschiebungen und Medikamenteneinnahme müssen berücksichtigt werden. Fetale Risikofaktoren wie Wachstumsretardierungen, Infektionen oder Fehlbildungen können von großer Bedeutung sein. Weiterhin ist ein sich im Verlauf komplett veränderndes CTG immer suspekt.
Parameter wie der Baseline-Anstieg um mehr als 10 %, der Wegfall des Schlaf-Wach-Rhythmus und die Verkürzung der Wehenpausen unter 90 Sekunden rücken bei der physiologischen CTG-Interpretation in den Vordergrund.
Im November 2019 fand eine von Chandraharan geleitete CPI-Schulung für alle Ärzte und Hebammen der Unifrauenklinik Ulm statt. Für die retrospektive Auswertung wurden sowohl Geburten 12 Monate vor dem Training als auch Geburten 12 Monate danach ausgewählt. Betrachtet wurden alle Einlingsschwangerschaften ab 37+0 SSW. Untersucht wurde u. a. die Rate an Mikroblutuntersuchungen (MBU) auf Grund eines suspekten oder pathologischen CTGs. Für das neonatale Outcome standen die Parameter APGAR, Nabelschnur-pH und Aufenthaltsdauer auf der Kinderintensivstation. Für das mütterliche Outcome entscheidend waren höhergradige Dammverletzungen und verstärkte postpartale Blutungen.
Das Ergebnis sollte Aufschluss darüber geben, ob durch die physiologische CTG-Interpretation die Rate an geburtshilflichen Interventionen gesenkt werden konnte, ohne dass das neonatale Outcome verschlechtert würde.
Insgesamt wurden 5.278 Geburten analysiert. In 577 Fällen wurde das CTG als suspekt oder pathologisch befunden, davon 265 Fälle (9,7 %) vor dem CTG-Training und 312 Fälle (12,2 %) nach dem CTG-Training. Obwohl häufiger nach dem Training CTGs als auffällig eingestuft wurden, kam es zu einer signifikanten Reduktion an MBUs (19,9 % zu 26,8 %). Zusätzlich hat sich keine Verschlechterung des fetalen und maternalen Outcomes gezeigt, sondern eine Tendenz zur Verbesserung. Die Studiengruppe zog als Fazit, dass ein intensives CTG-Training Sensitivität und Spezifität steigern.
Die aktuelle S3-Leitlinie empfiehlt weiterhin die CTG-Interpretation anhand des FIGO-Scores. In anderen europäischen Ländern findet diesbezüglich ein Paradigmenwechsel statt. Die physiologische CTG-Interpretation wird als gleichwertig anerkannt, da hier mehr auf die individuelle Situation von Mutter und Kind eingegangen wird. Ziel ist es, unnötige operative Entbindungen zu vermeiden und das neonatale Outcome zu verbessern.
Der Kreis zwischen physiologischem Verständnis des Geburtsablaufs und modernen Überwachungsmethoden schließt sich. Wenn dadurch adäquatere Reaktionen auf fetale Gefahrensituationen ermöglicht werden und menschliches Leid verhindert wird, wäre ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung getan.
Quellen
Bildquelle: Jonathan Chng, Unsplash