Das Notfallsystem wird von Grund auf saniert. Ob Fachärzte für Notfallmedizin, integrierte Notfallzentren oder neu strukturierte Leitstellen – die Liste an Neuerungen ist lang. Wir geben euch einen Überblick.
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Vor kurzem veröffentlichte die Regierungskommission ihren Vorschlag zur Neuordnung des Notfallsystems. Darin bietet sie viele fachlich exzellente wie organisatorisch gut begründete Perspektiven. Wörtlich und korrekt heißt der Vorschlag: „Vierte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung: Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland – Integrierte Notfallzentren und Integrierte Leitstellen.” Darin vorgestellt wird nichts weniger als die Neuorganisation der Strukturen unseres Alltages. Erfreulich daran: Das bestehende System wird endlich einmal grundlegend, realitätsnah und aus der Praxis heraus weiterentwickelt, sodass es funktionieren kann. Was das bedeutet?
Zur Erinnerung und als Grundlage: In Zukunft werden Krankenhäuser in 3 Level eingeteilt, wobei die Anforderungen für Notaufnahmen in Level-1-Krankenhäusern denen des G-BA-Beschlusses entspricht. Die Anforderungen für Krankenhäuser in Level 2 oder 3 sind dafür nochmal deutlich verschärft worden:
Level 2:
Level 3:
Gerade diese Anforderungen in den Level-3-Krankenhäusern werden die Zahl der Notaufnahmen mit Stufe 3 deutlich reduzieren oder zumindest vor Probleme stellen. Zu Hintergründen und allgemeinen Überlegungen („Dritte Empfehlung”) gibt es eine sehr kurze, prägnante Zusammenfassung von Martin Fandler auf nerdfallmedizin.
Besonders in der Akut- und Notfallmedizin spielen die aktuellen statistischen Entwicklungen noch intensiver in die Planung hinein – mehr noch als in den anderen Bereichen des Gesundheitswesens. Die Situation und Eskalation der letzten Jahre hat die Aufmerksamkeit – zum Glück – auf die Akutversorgung gelenkt, waren doch gerade die Notaufnahmen der unkalkulierbare Hotspot der Pandemie.
Die Notfallkontakte im gesamten Gesundheitssystem haben um 12 Prozent in den letzten 10 Jahren zugenommen, wobei die KV-Kontakte im gleichen Zeitraum um 12 Prozent gesunken sind. Naturgemäß bedeutet das, dass der reale Zuwachs mit 28 Prozent in den Notaufnahmen stattgefunden hat. Gleichzeitig ist der Anteil der stationären Aufnahmen in den Notfallkontakten um ein Drittel angestiegen, während ambulante Kontakte um 24 Prozent abgenommen haben. Jede Person, die mal einen Fuß in die Notaufnahmen gesetzt hat, weiß, dass die Entwicklung der letzten Jahre weder organisatorisch noch personell, professionell, oder finanziell abgefangen wurde.
Es gebührt den Kollegen des Expertengremiums eine hohe Anerkennung, dieses chronische Problem kompetent und mit Weitsicht angegangen zu sein. Die Vorschläge sind nämlich grandios und realitätsnah – und haben gleichzeitig die seit Jahren bestehende Aussagen der KVen, dass sie die Notfallsituation im Griff haben, objektiviert.
Klar spricht die Empfehlung die unangenehme Wahrheit an, dass die ambulanten Angebote der KVen nicht zur Sicherstellung der Notfallversorgung ausreichen: Sie sei weder umfassend noch abschließend. Das hat gesessen. Unsere Lebenswirklichkeit hat das schon lange gezeigt. Gut also, dass es auch mal an entsprechender Stelle offen und klar belegt ausgesprochen wird.
Oft wissen unsere Patienten ja nicht, an welche Stelle sie sich wenden müssen. Die sektorale Trennung ist sehr wenig aufeinander abgestimmt, erschwerend sind die Anlaufstellen und Angebote in ihren Aufgaben intransparent. Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen ist nicht wirklich vorgesehen. Oft ist ein gelber, unleserlicher KV-Schein das einzige Resultat intersektoraler Kommunikation. Diese Vorwürfe funktionieren in alle Richtungen, da sind alle Partner in der Akutversorgung gleich dysfunktional – naturgemäß aufgrund struktureller Zwänge.
Mangel ist ein vorherrschendes Problem in unserem System, besonders in der Akutversorgung. Das adressiert die Stellungnahme offen und unmissverständlich: Wir haben Personalmangel, Fachabteilungsschlüsselmangel, Professionalisierungsmangel, Facharztmangel, Finanzierungsmangel. Mangel überall.
Apropos Finanzierung: Vorhaltungskosten sind nicht abgedeckt – nichts Neues für uns, auch die ambulante Vergütung ist nicht ansatzweise kostendeckend. Das ergibt einen Fehlanreiz zu stationärer Aufnahme und konterkarikiert den Ansatz „ambulant vor stationär“ komplett. Letztendlich führt dieser Mangel zu einem großen Investitionsstau, denn warum sollte man in einen Bereich investieren, der eh hoch defizitär ist?
Mit den Maßnahmen und den eingeleiteten Veränderungen sollte das auch alles erreichbar sein. Im Gegensatz zu vielen Vorschlägen und Positionspapieren – wir erinnern uns an das unsägliche Bertelsmann-Papier – macht das einen extrem soliden und durchdachten Eindruck. Zudem erstellt von Leuten, die wirklich was von ihrer Arbeit verstehen.
Perspektivisch wird es eine gemeinsame integrierte Leitstelle für die bisherigen Nummern 116 117 und 112 sowie für alle Kontakte zu Hilfesuchenden geben. Man erhofft sich dadurch eine bessere Patientenselektion. Aber insbesondere stellt es einen einzigen und attraktiven Kontakt und eine Schnittstelle dar, um Menschen schnelle Hilfe und effektive Lösungen anzubieten. Das kann sogar in Zukunft bis hin zu telemedizinischen Kontakten gehen. Die bisherigen drei Kontaktmöglichkeiten Hausarzt/KV vs. Klinik vs. Rettungsdienst sollen an einem Punkt gebündelt werden.
INZ wird es in Zukunft an allen Krankenhäusern der Stufe 2 oder 3 geben – verbindlich:
Das Konzept ist hier noch nicht ganz abgeschlossen, aber im Prinzip bleiben zwei Varianten übrig:
Oder:
Insgesamt ein interessanter und für uns in der Notfallmedizin sehr relevanter, wie auch durchdachter Vorschlag. Von mir aus könnte er morgen in Kraft treten.
Bildquelle: Miguel Bruna, unsplash