Natürlich möchte ich meine Patienten als Hausärztin gut versorgen – das ist meine Pflicht. Angesichts der Flut an Patienten weiß ich aber nicht, wie ich diese Pflicht auf Dauer erfüllen kann.
„Der Tod ist leicht wie eine Feder, die Pflicht ist schwerer als ein Berg.“ – Lan Mandragoran, „Das Rad der Zeit“
Bevor jetzt hier wilde Spekulationen aufkommen: Nein, das soll keine versteckte Suizid-Ankündigung sein. Aber, dass „die Pflicht schwerer ist als ein Berg“, gibt meine Stimmungslage erschreckend gut wieder.
Warum? Weil ich aktuell nicht weiß, wie ich das, was ich in den letzten Wochen gemacht habe, dauerhaft leisten soll und kann. Klar, es waren jetzt auch eine Menge grundsätzliche Dinge neu zu lernen und umzusetzen, die auf Dauer mit der Routine einfacher gehen sollten – wie Rechnungserstellung, Buchhaltung und Lohnüberweisungen. Und es ist auch alles soweit ganz gut geworden. Aber dafür habe ich gut 70 Stunden pro Woche gearbeitet, teils auch mehr.
Was mich gerade umtreibt: Ich möchte meine Patienten gut versorgen. Das sehe ich auch als meine Pflicht als Arzt an. Aber es sind einfach schlichtweg zu viele, die bei uns anfragen und versorgt werden müssen. Wir sind in unserer Region (geschätzt) hausärztlich um ca. 20 % unterversorgt, es gibt (das weiß ich sicher) mehrere freie KV-Sitze für Hausärzte, die unbesetzt sind. Auch wenn wir das „Land“ sind, wachsen die Gemeinden – was den Bedarf noch erhöht. Selbstverständlich werden aktuell noch einige Patienten in der Stadt mitversorgt, weil sie die Arztbesuche direkt nach der Arbeit machen, aber das sind vorwiegend die Jüngeren und Mobilen. Diejenigen, die jetzt in Rente gehen, wollen natürlich nicht 30 bis 40 km zum Hausarzt fahren. Die möchten gern einen lokalen Hausarzt.
Die bisher freien Sitze wird auch niemand in absehbarer Zeit nehmen – warum sollte man eine Praxis gründen, wenn man einfach eine ausgeschriebene übernehmen kann? Das heißt aber, dass durch die zwei Kollegen, die ohne Nachfolger in den letzten Jahren in Rente gegangen sind, zwei Praxen nicht mehr ausgeschrieben sind – was die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung deutlich verringert.
Die Kollegen aus den anderen Praxen werden auch nicht jünger. Ca. 30 % haben ihren 60. Geburtstag schon (teils weit) hinter sich, aber es ist einfach niemand in Sicht, der die Praxis übernimmt. Einem anderen Kollegen aus der Nachbargemeinde ist die angestellte Fachärztin zunächst krankheitsbedingt ausgefallen und hat dann gekündigt. Damit wurde aus einer Zwei-Ärzte-Praxis eine 1-Arzt-Praxis. Weswegen er dann auch konsequenterweise, nach 80-Stunden-Wochen über ein Vierteljahr, einigen Patienten aus unserer Gemeinde gesagt hat, sie sollen sich bitte lokaler einen Arzt suchen – die standen dann bei uns vor der Tür.
Über das Problem des Palliativ-Telefons habe ich ja schon berichtet – alles soll versorgt werden, aber es fehlt überall das Personal, dass es dann letztlich macht. Und ja, da wird es dann schon sehr hart mit der Pflicht der guten Patientenversorgung: Ich möchte auch mal mit meinen Kindern einen Filmeabend machen können, ohne dass ich die ganze Zeit mein Telefon in Reichweite habe, falls mal wieder ein Palliativpatient anruft. Es war zwar in letzter Zeit etwas ruhiger, aber dieses Damoklesschwert hängt die ganze Zeit da. Ich möchte auch Zeit mit meinen Kindern verbringen können, ohne die ganze Zeit im Kopf zu haben, was noch alles zu erledigen ist und ob vielleicht gerade wieder jemand versucht anzurufen.
Last but not least: Die Notdienste. Wenige Ärzte bedeutet auch: Wenig Diensthabende für die KV-Notdienste. Wir stemmen die 365 Tage im Jahr gerade mit ca. 40 Vollzeit-Äquivalenten. Die umliegenden, dichter besiedelten Orte haben sowas wie 180 Diensthabende und mehr, in der Großstadt sind es mehrere hundert. Das Ergebnis ist ganz banale Mathematik: Viele Schultern, wenig Dienste. Wenig Schultern, viele Dienste. Wir haben ca. 9 Dienste im Jahr, die Kollegen im Umland eher so 2 bis 4. Als ich einen Kollegen aus der Stadt auf seine Dienste ansprach, meinte er: „Ich habe sechs Dienste – aber nur 4 Stunden am Stück“. Diese 24 Stunden hatte ich mit nur einem Dienst letztes Wochenende schon voll.
Es kommt aber noch besser: Dafür, dass wir die vielen Dienste machen dürfen, zahlen wir ja auch eine extra hohe Umlage. Auch da gilt, Geld pro Nase: wenig Nasen, viel Umlage. Wir zahlen über 400 Euro, die Kollegen aus dem Umland zwischen 60 und 120 Euro pro Monat.
Jetzt kann man sagen: „Naja, dann kauft man sich halt einen Vertreter“. Geht hier aber auch nicht. Da unsere Landbevölkerung es genau richtig (!) macht und nicht so oft in den Notdienst geht, sondern ganz brav bis Montagmorgen beim Hausarzt wartet, sind die Dienste kaum frequentiert. Mein letzter Dienst war ein „kurzer“ Dienst: Präsenz-„Sitzdienst“ von 19 bis 21 Uhr, danach Rufbereitschaft. Man muss aber natürlich im Bezirk bleiben, brachte dann 0 (!) bis 3 Patienten. Die Wochenenden-24-Stunden-Dienste sind mit ca. 20 bis 30 Leuten besser besucht, aber bei ca. 20 Euro pro Notfallpatient kann man sich auch ganz schnell ausrechnen, wieviel man dann bekommt. Bisher hatten wir für Vertretungen am Wochenende 600 Euro bezahlt – das sind aber nur 25 Euro die Stunde. Dafür kommt keiner mehr. Und selbst das Geld bekomme ich bei 25 Patienten in 24 Stunden nicht raus. Realistischer wäre das Doppelte – und damit darf ich dann für jeden Wochenenddienst, den ich abgebe, mindestens 600 Euro drauf zahlen! Und wer bleibt denn dafür die ganze Nacht im Krankenhaus-Bereitschaftszimmer? Die meisten wollen zu Hause schlafen – aber auch das ist ja nicht erlaubt, weil man im Bezirk bleiben muss.
Wir haben hier jahrelang versucht, die Situation zu verbessern. Bis auf leicht reduzierte Präsenzzeiten hat sich aber einfach nichts geändert. Und das schreckt natürlich potentielle Praxis-Interessenten noch weiter ab. Warum diese mords Dienstbelastung, wenn ich in der nächsten Stadt die lukrativen Dienste abgeben kann und max. 4 Stunden am Stück machen muss? Die Leute fliehen ja aus den Kliniken, um der Dienstbelastung zu entkommen.
Und damit zu meinem letzten Dilemma: Dadurch, dass ich angestellte Ärzte habe, muss ich mich um deren Dienste mit kümmern. Das macht bei uns knapp 25 Dienste pro Jahr für mich – oder entsprechende Vertreterkosten, wenn ich überhaupt einen finde. Denn auch die KV-Dienste und die Dienstübernahme für Angestellte sind ja meine Pflicht. Die Probleme, die gerade alle haben mit dauernder Nicht-Lieferbarkeit von Medikamenten, überbordender Bürokratie, etc. erwähne ich hier mal nur am Rande.
Ja, das war mir alles grundsätzlich klar, als ich die Praxisübernahme mit meinem Chef besprochen habe. Aber unter diesem Berg ächze ich gerade. Und ich bezweifle zunehmend, dass sich jemand anders diesen Berg der Verpflichtungen aufhalsen wird, weil es genug alternative Angebote gibt mit besseren Bedingungen. Und ja, da kann ich die Kollegen, die das tun, völlig verstehen.
Ich möchte den Artikel eigentlich gern mit einem positiven Ausblick beenden, aber der fehlt mir gerade. Damit es nicht zu düster endet, noch ein Zitat aus einem anderen Fantasy Roman: „Was ist der wichtigste Schritt, den ein Mensch machen kann? Der nächste ... “ – Dalinar Kholin, „Oathbringer“.
Also erstmal weiter. Schritt für Schritt ...
Bildquelle: Atharva Tulsi, unsplash