Egal ob Bildgebung, Blutdruck oder Blutfette: Genaue Messungen oder neue Leitlinien verbessern nicht immer die Situation von Patienten. Ganz im Gegenteil: Über Nacht werden aus gesunden Menschen plötzlich Patienten. Ärztliches Fingerspitzengefühl ist mehr denn je gefordert.
Aktuelle Zahlen des Krebsregisters Schleswig-Holstein: Erkrankten zwischen 1999 und 2001 pro Jahr im Bundesland rund 17.500 Menschen neu an Krebs, waren es zwischen 2009 und 2011 schon 19.000 weitere Patienten pro Jahr. Als Erklärung ziehen Forscher nicht nur das steigende Durchschnittsalter heran, sondern auch Verbesserungen bei der Krebsfrüherkennung – ein zweischneidiges Schwert, wie Studien zeigen.
Beispielsweise streiten Ärzte schon lange über den Sinn von PSA-Screenings. Fritz H. Schröder, Amsterdam, wertete kürzlich Daten von 162.388 Männern zwischen 50 und 74 Jahren aus. Ärzte führten bei Probanden ab PSA-Werten von 3,0 ng/ml Biopsien durch, was – oh Wunder – zu mehr Diagnosen und zur früheren Erkennung von Prostata-Ca führte. Signifikante Einflüsse auf die Gesamtsterblichkeit fanden Forscher selbst nach 13 Jahren nicht. Allerdings führen OPs teilweise zur Harninkontinenz und zu erektilen Dysfunktionen – sprich die Lebensqualität Betroffener sinkt ohne Not. Damit nicht genug: Schröder schätzt, 40 Prozent aller Tumoren würden bis zum Tod des Patienten nicht metastasieren. Während der Autor aggressive Formen über multiparametrische MRTs erkennen möchte, fordert Ian M. Thompson, San Antonio, andere Strategien. Ärzte sollten mit dem Individualized Risk Assessment of Prostate Cancer, einem Online-Tool, zusätzliche Risikofaktoren mit einzubeziehen.
Prostata-Ca sind im onkologischen Alltag kein Einzelfall: Anthony B. Miller, Toronto, machte ähnliche Analysen bei Mammographie-Screenings. Er teilte 89.835 Frauen in eine Mammographie- und eine Kontrollgruppe mit Tastuntersuchungen auf. Nach fünf Jahren wertete Miller die Befunde aus und ermittelte hochgerechnet auf 25 Jahre Überlebensraten von 70,6 Prozent (Screening) versus 62,8 Prozent (Kontrollgruppe). Am Ende der tatsächlichen Nachbeobachtungszeit fand er jedoch keinen langfristigen Mehrwert der Mammographien. Dem gegenüber stand eine falsch positive Diagnose pro 424 Frauen, die am Untersuchungsprogramm teilnahmen. Ähnlich desaströs endeten Versuche, starken Rauchern CT-Screening-Programme anzubieten, um Lungenkrebs rechtzeitig zu entdecken. Ärzte untersuchten 53.452 langjährige Tabakkonsumenten über 55 drei Jahre lang entweder per Niedrig-Dosis-CT oder per Röntgenthorax. Das beeindruckende Ergebnis, nämlich 20 Prozent weniger Todesfälle im CT-Arm, hatte bei näherem Hinsehen gewaltige Schönheitsfehler. Edward F. Patz Jr., Durham, errechnete 22 Prozent Überdiagnosen bei nicht-kleinzelligem Lungenkrebs und 78 Prozent bei bronchioloalveolären Karzinomen. Rein rechnerisch müssen 320 Personen gescreent werden, um einen Todesfall zu verhindern, was gleichzeitig zu 1,38 Überdiagnosen führt. Auch bei Schilddrüsenkarzinomen berichten Ärzte von ähnlichen Problemen. Auf Sonographie und Biopsie folgt häufig die OP – feingeweblich lassen sich bösartige Erkrankungen nicht immer ausschließen. Rebecca Smith-Bindman, San Francisco, schlägt deshalb drei zusätzliche Parameter vor: Verkalkungen (8,1-faches Risiko), Durchmesser von mindestens zwei Zentimetern (3,6-faches Risiko) und eine gleichmäßige Struktur (4,0-faches Risiko).
Nicht nur die Bildgebung lässt Spielraum für Interpretationen – auch Vitalparameter haben es in sich. Bis Mitte 2013 definierten die European Society of Hypertension (ESH) und die European Society of Cardiology (ESC) unterschiedliche Zielwerte beim Blutdruck: 140/90 mmHg für Menschen mit niedrigem oder mittlerem Risiko und 130/80 mmHg für Hochrisikopatienten. Seit Juni 2013 gelten neue Leitlinien, die bei nahezu allen Zielgruppen einen systolischen Zielwert von 140 mmHg empfehlen. Kollegen des Joint National Committee 8 (JNC 8) meldeten sich ebenfalls zu Wort. Sie raten bei Hypertonikern unter 60 Jahren zu 140/90 mmHg. Ältere Patienten könnten bei 150/90 mmHg bleiben. Ähnlich kontrovers diskutieren Kardiologen die Frage, ob bei der Cholesterinsenkung Zielwerte („treat to target“) oder feste Dosen eines Statins („fire and forget“) sinnvoll wären. Ursprünglich galt als Empfehlung, Risikopatienten mit manifesten Gefäßerkrankungen sollten LDL-Werte unter 100 mg/dl erreichen, bei sehr hohem Risiko galten 70 mg/dl als Grenze. Die American Heart Association (AHA) und das American College of Cardiology (ACC) argumentieren in ihrer Leitlinie jetzt für definierte Statindosen, die sich am Risiko, nicht aber am Zielwert orientieren. Kritiker schätzen, über Nacht wären plötzlich 33 Millionen US-Amerikaner zu behandeln – 22 Prozent mehr als unter vorherigen Leitlinien.
Ähnlich kontrovers diskutieren Kollegen über Diabetes mellitus – sollen HbA1c-Werte unter 6,5 Prozent oder zwischen 6,5 und 7,5 Prozent abgesenkt werden? Niedrigere Parameter gehen mit höheren Ausgaben einher und machen nur Sinn, falls Patienten davon wirklich profitieren. Um Klarheit zu schaffen, haben Wissenschaftler des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und der der Universitätsklinik Graz sieben Studien mit knapp 28.000 Teilnehmern ausgewertet. Ihr Resultat ernüchtert: Unter beiden Therapieschemata starben vergleichbar viele Patienten. Schlaganfälle, tödliche Herzinfarkte, Nierenversagen oder Amputationen traten ähnlich häufig auf. Nichttödliche Herzerkrankungen waren zwar etwas unwahrscheinlicher, allerdings zum Preis schwerwiegender Nebenwirkungen durch die Behandlung.
Viele Krankheitsbilder – ein Fazit: Dank neuer Technologien stehen Ärzten heute Parameter in Hülle und Fülle zur Verfügung. Innovationen haben auch ihre Schattenseiten: Wer ist wirklich krank, wer muss behandelt werden? Diese Frage lässt sich vor allem mit medizinischem Fingerspitzengefühl, aber nicht per se mit Sonographien, MRTs oder Leitlinien beantworten. Nach heutigem Stand führen Daten in vielen Fällen zu Überdiagnosen und Übertherapien, von denen niemand profitiert. Patienten verlieren durch unnötige OPs oder Pharmakotherapien an Lebensqualität, von volkswirtschaftlichen Schäden ganz zu schweigen.