Edaravone galt lange als vielversprechende Therapieoption bei ALS. Doch in der EU ist das Mittel bisher nicht zugelassen. Zurecht?
Das Medikament Edaravone des japanischen Herstellers Mitsubishi-Tanabe Pharma galt einst als vielversprechende Behandlungsmethode der bis dato unheilbaren Amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Im Herstellerland Japan ist es bereits seit 2016 zugelassen, die USA und Kanada folgten 2017 und auch in der Schweiz ist das Medikament mittlerweile zugelassen. Doch in Deutschland ist das Medikament weiterhin nicht erhältlich, da die Zulassungsstudien der EMA zufolge bislang keine hinreichenden Belege für eine Wirksamkeit der Therapie darlegen konnten. Eine Studie, die im Lancet-Ableger eClinicalMedicine veröffentlich wurde, soll nun neue Belege für die Wirksamkeit von Edaravone liefern.
Der genaue Wirkmechanismus von Edaravone bleibt weiterhin unklar. Bei dem Medikament handelt es sich um ein Antioxidans. Forscher vermuten daher, dass es den Zerfall von Neuronen bei der ALS aufhalten kann, da hierbei oxidativer Stress eine Rolle spielt. Ursprünglich wurde das Medikament zur Behandlung von Schlaganfällen entwickelt, um den Neuronenzerfall im Gehirn, der durch einen Schlaganfall entsteht, aufzuhalten. Japan ist jedoch das einzige Land indem das Medikament für diese Indikation zugelassen ist.
In ursprünglichen ALS-Zulassungsstudie wurde es im vierwöchentlichen Rhythmus an 10 aufeinanderfolgenden Wochentagen infundiert. Mittlerweile ist das Medikament auch als orale Suspension erhältlich.
Bei der besagten Studie handelt es sich um eine retrospektive Kohortenstudie, welche Studiendaten zu Edaravone aus den USA von 2017 bis 2020 betrachtet. Insgesamt wurden 636 Probanden eingeschlossen, wobei je die Hälfte in der Kontroll- und die andere Hälfte in der Edaravone-Gruppe waren. Der Beginn des Beobachtungszeitraums wurde für die Behandlungsgruppe auf den Zeitpunkt der ersten Infusion von Edaravone festgelegt. Bei den Probanden der Kontrollgruppe begann der Beobachtungszeitraum mit der Verfügbarkeit von Edaravone in den USA. Der Großteil der Probanden (ca. 65 %) wurde zuvor oder gleichzeitig mit Riluzol, einem bereits etablierten ALS-Medikament, behandelt.
Verglichen wurde insbesondere die Gesamtüberlebenszeit. Im Median betrug diese mit Edaravone-Therapie 29,5 Monate und 23,5 Monate in der Kontrollgruppe. Das Mortalitätsrisiko war zudem etwa 30 % geringer in der Behandlungsgruppe.
Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass es einen Vorteil von Edaravone auf die Gesamtüberlebenszeit von ALS-Erkrankten gibt. Jedoch sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu betrachten. Bei Studie handelt es sich lediglich um eine retrospektive Kohortenstudie. Eine im selben Zeitraum durchgeführte Studie an 12 deutschen ALS-Zentren konnte weder einen Vorteil von Edaravone auf das Gesamtüberleben noch auf die Krankheitsprogression von ALS-Patienten nachweisen. Eine Subgruppenanalyse zeigte jedoch, dass Patienten mit bestimmten Krankheitsmerkmalen von der Therapie zu profitieren scheinen.
In einer weiteren Studie wurden daher nur solche Patienten eingeschlossen, die die zuvor festgelegten Merkmale erfüllen. Hierbei handelt es sich vornehmlich um ALS-Patienten, die sich in einem besonders frühen Erkrankungsstadium befinden. Die Studie konnte zeigen, dass die Krankheitsprogression in dieser ausgewählten Patientengruppe um etwa 30 % abnahm. Eine Auswirkung auf die Gesamtüberlebenszeit wurde nicht überprüft.
Die oben genannten Studien beziehen sich jedoch alle auf die Infusionstherapie von Edaravone, welche mit enormem logistischem und personellem Aufwand verbunden ist und nur an speziellen ALS-Zentren mit Infusionsmöglichkeiten durchgeführt werden kann. Mittlerweile ist Edaravone jedoch auch als Suspension erhältlich. Aktuell läuft eine multizentrische Studie, die die Wirksamkeit der Suspensionstherapie überprüft. Mit dabei ist u.a. auch das ALS-Zentrum der Charité Berlin.
Insgesamt ist die Studienlage zu Edaravone durchaus kontrovers. Die Entscheidung der EMA das Medikament zunächst nicht zuzulassen ist daher nachvollziehbar. Offenbar wirkt Edaravone nur bei einem kleinen Teil der ALS-Betroffenen. Sollten nun jedoch weitere randomisiert kontrollierte Studien einen Vorteil von Edaravone, insbesondere in der oralen Darreichungsform, auf den Krankheitsverlauf von ALS nachweisen können, ist eine Zulassung in Deutschland und Europa unabdingbar. Die ersten Studienergebnisse zu dieser Darreichungsform lassen zumindest auf eine Wirksamkeit hoffen. Leider handelt es sich bei Edaravone nicht um eine kausale Therapie der ALS und eine Heilung ist weiterhin nicht möglich. Ein günstiger Effekt auf den Krankheitsverlauf sollte den Erkrankten aber nicht verwehrt bleiben.
Quellen
Brooks et al., Intravenous edaravone treatment in ALS and survival: An exploratory, retrospective, administrative claims analysis. eClinicalMedicine. 2022; doi:10.1016/j.eclinm.2022.101590.
Witzel et al., Safety and Effectiveness of Long-term Intravenous Administration of Edaravone for Treatment of Patients With Amyotrophic Lateral Sclerosis. JAMA Neurol. 2022; doi:10.1001/jamaneurol.2021.4893.
Abe et al., Safety and efficacy of edaravone in well defined patients with amyotrophic lateral sclerosis: a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. The Lancet Neurology. 2017; doi:10.1016/S1474-4422(17)30115-1.
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