Digitalisierung in Deutschland – ein ewiges Leid. Vor allem, wenn es um die elektronische Patientenakte geht. Wie es in Österreich schon seit 10 Jahren funktioniert, lest ihr hier.
Vor kurzem verkündete Gesundheitsminister Karl Lauterbach, dass nun auch Deutschland endlich mit einer besseren elektronischen Patientenakte versehen werden soll (DocCheck berichtete). Moment, mit einer besseren elektronischen Patientenakte? Das müsste ja heißen, dass es bereits eine gibt? Und siehe da, das tut es auch – und zwar seit Januar 2021! Aber die nutzt so gut wie niemand, nämlich nicht einmal ein Prozent der deutschen GKV-Versicherten (DocCheck berichtete). Zum Vergleich: In Österreich nutzen mittlerweile 97 % die hiesige elektronische Gesundheitsakte.
Österreichs ePA heißt ELGA (Elektronische Gesundheitsakte). Schlüsselfaktor ist die E-Card, eine elektronische Karte, die 2005 eingeführt wurde und bei jedem Arztbesuch dabei ist. Sie ist für jemanden meines Alters selbstverständlich und gehört genauso in eine Brieftasche, wie ein Führerschein oder ein Personalausweis. Wenn man krank ist, geht man zum Hausarzt. Die Mitarbeiter nehmen einem die E-Card ab, stecken sie in ihr Lesegerät und man ist angemeldet. Warten muss man eh überall, da kann einem auch die beste E-Card nicht helfen. Wobei die Karte aber helfen könnte: die Behandlungszeit zu verringern und Missverständnissen sowie falscher oder fehlender Kommunikation vorzubeugen.
Die Gesundheitsdaten, die über die ELGA zugänglich gemacht werden, stehen den betroffenen Patienten und den behandelnden ELGA-Gesundheitsdienstanbietern (ELGA-GDA) – das sind Krankenanstalten und Ambulatorien, niedergelassene Ärzte, Apotheken und Pflegeeinrichtungen – zur Verfügung. Zentral gespeichert wird die Medikation (ärztlich verschrieben und in der Apotheke abgegeben), dezentral gespeichert und über ein Verzeichnis zugänglich gemacht werden ärztliche und pflegerische Entlassbriefe und Befunde (Laborbefunde, bildgebende Diagnostik). Patienten können die eigenen Daten jederzeit einsehen. Ebenso können sie einsehen, wer wann ihre Daten eingesehen hat. Patienten können auch die gesetzlich voreingestellten Zugriffsberechtigungen von ELGA-GDA (28 Tage für Apotheken, 90 Tage für alle anderen) verkürzen oder verlängern. Dazu kommen natürlich die Rechte auf Datenportabilität- und Löschung.
Einer der großen Kritikpunkte bei der Einführung der ePA, jetzt auch wie in Österreich mit Opt-Out-Lösung, ist wohl der Umgang mit den Daten und die dazugehörige Datensicherheit. Das kann ich absolut nachvollziehen. Der Gematik würde ich meine Daten auch nicht anvertrauen wollen. Scherz beiseite: Ob meine Daten aber so viel sicherer sind, wenn hochsensible Dokumente wild durch die Gegend gefaxt werden und dann in sämtlichen Praxen rumgeistern, wage ich zu bezweifeln. Dennoch sind diese Bedenken natürlich berechtigt – und sie sollten nicht unter den Teppich gekehrt werden. Auch hier hat die ELGA ihre Probleme.
In Österreich haben alle ELGA-GDA Einblick in die Daten, die die Patienten gerade behandeln oder betreuen. „Ab der Identifikation des ELGA-Teilnehmers bei einem Arzt bzw. in einer Krankenanstalt kann der Arzt bzw. die Krankenanstalt, für die folgenden 28 Tage auf die ELGA des jeweiligen Patienten zugreifen. Apotheken haben nur zwei Stunden ab Identifikation Zugriff auf ELGA und zwar ausschließlich auf die e-Medikationsliste (nicht aber auf e-Befunde)“, schreibt das digitale Österreichische Amt, über das auch viele Behördengänge online abgewickelt werden können. „Mit ELGA wurde das Niveau des Datenschutzes und der Datensicherheit für (ELGA-)Gesundheitsdaten im Vergleich zu den meisten bisherigen Systemen deutlich angehoben. Per Gesetz und daher auch technisch jedenfalls vom Zugriff auf ELGA ausgeschlossen sind Versicherungen, Arbeitgeber, Behörden sowie für als Gutachter tätige Ärzte (z. B. Arbeitsmediziner).“
Und da trennt sich wohl die Spreu vom Weizen: Wer darf wann wie lange Zugriff auf die hochsensiblen und höchstpersönlichen Daten haben und wie werden diese Daten ausreichend geschützt? Auch in Österreich ist das immer noch das größte Streitthema.
Auch in Österreich ging, ähnlich wie in Deutschland jetzt, die Einführung der elektronischen Gesundheitsakte nicht ohne Proteste über die Bühne. Und wer protestierte am Lautesten? Auch hier eine klare Parallele: die Ärzte.
Die Befürchtungen und Ängste waren ähnlich: Datenmissbrauch, ein unausgereiftes System, Verfassungswidrigkeit der Opt-Out-Lösung. In der Wiener Zeitung wurde kurz nach Einführung der ELGA der damalige Präsident des Hausärzteverbands, Christian Euler, zitiert: „Seit Jahresbeginn können wir den Patienten keine Vertraulichkeit mehr garantieren“, so Euler. „Wir fürchten den legalen Gebrauch sensibler Daten durch Ämter und Behörden.“ Interessanterweise wurden damals schon die gescheiterten Systeme in Großbritannien und eben auch Deutschland als Negativbeispiele angegeben. Der damalige Gesundheitsminister Alois Stöger sagte ebenfalls der Wiener Zeitung gegenüber, er sei „überzeugt, dass viele Menschen die Vorteile von ELGA spätestens bei Vollbetrieb zu schätzen wissen.“
Und so ist es schlussendlich auch gekommen, denn der Großteil der Österreicher ist positiv gestimmt, wenn es um die ELGA geht. Kurz nach den damaligen Protesten der Ärzte, die auch durch Plakate und Flugblätter in den österreichischen Hausarztpraxen stattfanden, schrieb der ORF, dass 88 % der Österreicher im ELGA-System bleiben wollen und 71 % gaben an, dass sie die Proteste der Ärzte gegen die elektronische Gesundheitsakte für falsch hielten.
Auch im Jahr 2018, zehn Jahre nach der Einführung der elektronischen Gesundheitsakte, sind die Fronten immer noch dieselben. Die Ärzte sehen keinen Mehrwert, die Patienten eine Erleichterung. In einer Umfrage aus 2018 gaben 70 % der Ärzte an, durch die ELGA keine Vorteile zu haben. Interessant: Nicht die Akte an und für sich wird abgelehnt, sondern die Benutzerfreundlichkeit, Schnelligkeit und Vollständigkeit. „Wir haben noch immer keine zeitgemäße Usability. Ich werde von einer Reihe von PDF-Dateien erschlagen“, kritisiert der damalige Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) Harald Mayer. Außerdem sei das System langsam, es gäbe keine funktionierende Suchfunktion und die Daten seien unvollständig, da die Patienten selbst bestimmen können, welche Befunde im System auftauchen sollen.
Diese Kritik ist auch heute noch da – und immer noch angebracht. Gesundheitsminister Johannes Rauch fordert, wie auch die Ärztekammer, eine Modernisierung. Die fehlende Verpflichtung von Ärzten, die Befunde einzutragen, sei ein Problem. Nur 1/5 aller Befunde wären eingetragen und die viel gewollte Suchfunktion gäbe es immer noch nicht. „Seitens der Ärztekammer heißt es, dass Ärztinnen und Ärzte stärker bei ELGA eingebunden werden müssten, insbesondere bei der Verbesserung der Benutzeroberfläche“, berichtet der Standard.
Aber es gibt nicht nur Kritik: Besonders im Bereich der E-Medikation gäbe es positive Rückmeldungen. Seit 2022 werden in Österreich, nach einer Testphase in 2021, auch Kassenrezepte als E-Rezept ausgestellt. „Im ersten Halbjahr 2022 wurden bereits 7,7 Millionen E-Rezepte ausgestellt, 82 Prozent der Ordinationen und 93 Prozent der Apotheken nutzen bereits das E-Rezept“, erklärt Peter Lehner, Vorsitzender der Konferenz der Sozialversicherungsträger. Abgewickelt wird das alles über die etablierte E-Card. Sie wird in der Apotheke gesteckt und alle offenen Rezepte werden angezeigt. Alternativ funktioniert das auch mittels QR-Code via App (eingeloggt wird sich durch Handy-Signatur oder ID-Austria, zwei Methoden einer digitalen Unterschrift), einer 12-stelligen E-Rezept-ID oder dem Scan eines Ausdrucks – eine Lösung für diejenigen, die das E-Rezept ablehnen. Auch die Abholung von Medikamenten durch Dritte ist möglich.
Ist die ELGA also nun das perfekte digitale Sammelsurium an allen Gesundheitsdaten und hält sie ihr Verspreche, „alles ganz einfach mit einem Kopfdruck einsehbar zu machen?“ Nein, definitiv nicht. Das wäre wohl auch für unsere kleine Alpenrepublik zu viel Digitalisierung. Aber die E-Card und die Infrastruktur, die mit ihr aufgebaut wurde, ebnet viele Wege. Gehen müssen diese Wege aber alle gemeinsam – und da liegt der Hase im Pfeffer. Es ist so schwierig, alle an einen Tisch zu bekommen.
Jeder will Daten, weil: Daten sind kostbar. Patienten wollen Datensicherheit, weil: Daten sind kostbar. Ärzte wollen eine einfache Anwendung, denn Zeit ist Geld. Und wenn man durch eine vermeintliche Erleichterung erst wieder mehr Zeit mit Computern und weniger Zeit mit Patienten verbringt, ist auch niemandem geholfen. Alteingesessene wollen, dass alles so bleibt, wie es ist – man will sich ja mit nichts Neuem mehr beschäftigen müssen, wenn man „eh nur noch 5 Jahre bis zur Pension“ hat. Also, wie kann das alles unter einen Hut gebracht werden? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Was ich aber weiß, ist, dass es so wie es ist, nicht bleiben kann und dass es dringend moderne Lösung für ein zerbröckelndes Gesundheitssystem braucht – auch in Deutschland.
Bildquelle: Vadim Sadovski, unsplash