Seit 2011 ist das Botulinumtoxin zur Behandlung chronischer Migräne zugelassen – bei schweren Formen, falls andere Therapien nicht anschlagen. Hersteller wittern Morgenluft und loten juristische Graubereiche aus, um weitere Patienten zu erreichen. Sie handeln nicht unbedingt zum Wohle Betroffener.
Neues aus der Forschung: Im letzten Jahr haben Ärzte bei einem Kind bisher unbekannte Stämme von Clostridium botulinum entdeckt und jetzt analysiert. Alle bislang bekannten Antiseren erwiesen sich als wirkungslos. Wie Stephen S. Arnon vom California Department of Public Health, Richmond, schreibt, handele es sich um das erste neu entdeckte Toxin seit 40 Jahren. Grund genug für das Journal of Infectious Diseases, ein Publikationsverbot zu verhängen. Genaue Aminosäuresequenzen bleiben geheim – aus Angst vor missbräuchlichem Einsatz.
Hersteller sind von diesen Restriktionen ebenfalls enttäuscht – sie hoffen auf medizinische Anwendungen. Seit seiner FDA-Zulassung Ende 2010 gilt Botulinumtoxin A als evidenzbasierte Therapieoption zur Migräneprophylaxe. Das Expertenurteil basiert lediglich auf zwei Studien. Grund genug für Jeffrey L. Jackson, Milwaukee, eine große Metaanalyse durchzuführen. Er bezog unter anderem 27 placebokontrollierte Studien mit ein, an denen insgesamt 5.313 Patienten beteiligt waren. Bei chronischen Kopfschmerzen verringerten sich die Krankheitstage unter Verum signifikant um 2,06 pro Monat. Ein Wermutstropfen: Die Injektionen waren weder Topiramat noch Amitriptylin überlegen. Bei Patienten mit episodischer Migräne sowie bei Patienten mit anderen Kopfschmerzarten trat kein Effekt auf. Bleibt als Fazit: „Onabotulinumtoxin A ist nur in der Therapie der chronischen Migräne mit und ohne Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln wirksam. Botulinum-Toxin soll in dieser Indikation nur von in der Diagnose und Therapie chronischer Kopfschmerzen erfahrenen Neurologen eingesetzt werden“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in einer Stellungnahme.
Hersteller wittern trotzdem Morgenluft und gehen ihren eigenen Weg. In der Bundeshauptstadt tauchten zuletzt Plakate mit dem Slogan „Kopf frei fürs Leben“ auf. Darauf steht zu lesen: „Über 49.000 Menschen in Berlin wissen nicht, dass sie unter chronischer Migräne leiden“, gefolgt von einer Telefonnummer und einer Internetadresse. Und darunter: „Mit freundlicher Unterstützung: MigräneLiga e.V.“. Patienten vermuten Informationen einer Selbsthilfegruppe oder einer medizinische Fachgesellschaft. Wer sich tatsächlich hinter der Kampagne verbirgt, zeigt sich erst beim Impressum: die Pharm-Allergan GmbH, Hersteller von Botulinumtoxin Typ A. Im letzten Jahr hat Allergan weltweit zwei Milliarden US-Dollar mit entsprechenden Präparaten umgesetzt. Jetzt lotet der Konzern neue Märkte aus. Mitte 2014 startete der kanadische Pharmakonzern Valeant eine Übernahmeschlacht. Ende Oktober hat Valeant-Chef Mike Pearson sein Angebot von 179 auf 200 US-Dollar pro Aktie erhöht. Der Pharmakonzern Actavis liebäugelt ebenfalls mit Allergan. Bislang scheiterten alle Fusionsbestrebungen. Doch zurück nach Berlin: Eigentlich dürften Verantwortliche hierzulande nicht für verschreibungspflichtige Medikamente werben. Der Trick: Allergan nennt kein konkretes Produkt, sondern erwähnt mögliche Behandlungsoptionen bei Migräne. Ziel ist trotzdem, bei Patienten Bedürfnisse zu wecken – egal ob entsprechende Therapien sinnvoll sind oder nicht. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen spricht Europachef Paul Navarre offen von „Market creation“. Er stört sich an Bedenken beim kosmetischen Einsatz: „Die Europäer sind noch nicht so weit, offen über Botox zu sprechen. Man konsumiere Botox nur, wenn man es nachher kaum sehe.“ Da kommen spezielle Kopfschmerzformen nur allzu gelegen.
„Erst vor wenigen Jahren wurde erkannt, dass die Chronische Migräne eine eigenständige Krankheit ist. Deshalb sind das Krankheitsbild und auch der Begriff Chronische Migräne vielen Betroffenen, aber auch vielen Ärzten noch unbekannt“, schreibt Allergan. Mediziner kooperieren mit dem pharmazeutischen Hersteller. Besonders aktiv ist hier die Schmerzklinik Kiel. Über ihren Youtube Channel veröffentlicht sie Patientengeschichten – mit Hinweis auf die Allergan-Patientenwebsite. Dort sind mehr als 200 Ärzte gelistet, die entsprechende Therapien anbieten. Die Redaktion hat stichprobenartig bei einigen Kollegen nachgefragt. Sie geben unisono an, für die Nennung kein Geld bekommen zu haben. Dafür gibt es Budgets für Vorträge oder Seminare. Beispielsweise hat Allergan knapp 21.000 Euro für den Deutschen Schmerzkongress 2014 springen lassen – unter anderem für ein Symposium. In den USA müssen entsprechende Zahlungen transparenter kommuniziert werden. Hier sponsorte der Hersteller etliche Mediziner mit bis zu 49.893 US-Dollar (Stand 2013). In Deutschland beschränken sich Regelungen zur Transparenz auf eine „Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie“. Jetzt sind Ärzte und Apotheker gefragt, Patienten objektiv zu beraten.