Ein Großteil der Insulindosis eines Diabetikers wirkt wahrscheinlich nicht wie erwartet. Haben Ärzte sich also jahrelang verschätzt?
Wer Patienten betreut, die zu den vielen Millionen Typ-1-Diabetikern weltweit gehören, weiß, dass Insulinpräparate unterschiedlich schnell und lange im Körper wirken. Für Diabetiker sind diese Unterschiede entscheidend: Wird zu wenig oder zu viel Insulin verabreicht, kann der Blutzucker entweder zu niedrig oder zu hoch sein. Beide Zustände können gefährlich sein.
Die Aufnahme von Insulin im Körper wird dadurch gesteuert, wie sich die Insulinmoleküle zu Clustern zusammenschließen. Während ein einzelnes Molekül für eine schnelle Wirkung im Körper sorgt, sind Cluster aus sechs Molekülen – Hexamere – lang wirkend. Seit Jahrzehnten geht man davon aus, dass sich Insulin in einer bestimmten Verteilung von Molekülclustern aus einem, zwei oder sechs Molekülen zusammensetzt. Auf der Grundlage dieser Annahme wurden Arzneimittel entwickelt. Mit moderner Einzelmolekülmikroskopie konnten Forscher der Universität Kopenhagen nun erstmals zeigen, dass dieser wichtige Punkt falsch ist.
„Es ist uns jetzt klar, dass wir uns um 200 Prozent geirrt haben. Es gibt nur halb so viele Einzelmoleküle im Insulin, wie wir dachten. Umgekehrt gibt es viel mehr Hexamere, als wir angenommen haben. Wenn diese Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung auf den menschlichen Körper übertragbar sind, bedeutet dies, dass wir glauben, eine bestimmte Dosis zu verabreichen, die aber möglicherweise nur die Hälfte der Dosis ausmacht, die im Körper die erwartete schnelle Wirkung hat“, sagt Prof. Nikos Hatzakis vom Fachbereich Chemie, Hauptautor der Studie. Mit anderen Worten: Ein großer Teil des Insulins, das Diabetiker derzeit ihrem Körper zuführen, wird möglicherweise nicht wie erwartet aufgenommen. Die Forscher betonen zwar, dass dies für Patienten nicht direkt gefährlich ist, aber zeigt, dass es ein großes Potenzial für die Entwicklung präziserer Medikamente gibt.
„Die Insulinpräparate sind im Laufe der Jahre immer besser geworden und viele Diabetiker sind gut eingestellt. Die Entwicklung von Insulinpräparaten basierte jedoch auf einer bestimmten Annahme darüber, wie sich die Moleküle zusammensetzen. Mit dem groben Standardmodell wurde dieser Prozess nie im Detail verstanden. Genau das können wir jetzt tun“, sagt Prof. Knud Jensen vom Fachbereich Chemie, weiterer Hauptautor der Studie. „Das bedeutet nicht, dass die derzeitigen Insulinmedikamente schlecht sind oder dass die Patienten falsch behandelt wurden. Aber wir haben jetzt ein grundlegendes Verständnis davon, wie sich Insulin verhält und wie viel dem Körper als schnell wirkendes Medikament zur Verfügung stehen könnte. Wir haben jetzt die richtige Methode, um uns genaue Zahlen zu liefern“, fügt Hatzakis hinzu.
Die Forscher begannen mit der direkten Beobachtung des Prozesses, bei dem sich jedes Insulinmolekül mit anderen Molekülen zu Clustern zusammenschließt. So konnten sie feststellen, wie schnell sich die einzelnen Cluster bilden. Die Forscher untersuchten etwa 50.000 Cluster. Die genaue Verteilung der verschiedenen Cluster in einer bestimmten Menge Insulin zu kennen, ist von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung von Medikamenten, die kurz- oder langzeitig im Körper wirken sollen. „Die Clusterbildung von Insulin ist unglaublich wichtig für die Wirkungsweise von Präparaten. Denn der Unterschied zwischen einem schnell und einem langsam wirkenden Insulinpräparat hängt davon ab, wie schnell sich die Moleküle zu Clustern zusammensetzen und wie schnell sie sich wieder auflösen“, sagt Freja Bohr, Doktorandin in der Forschungsgruppe und ebenfalls Hauptautorin.
Neben der unterschiedlichen Verteilung der Molekülcluster zeigen die Beobachtungen auch, dass die Bildung von Clustern ein sehr komplexer Prozess ist. Die Cluster können in viel unterschiedlicheren Abständen wachsen und schrumpfen als bisher angenommen. „Ohne jetzt schon genau sagen zu können, wie, sollte es dadurch möglich sein, die Zahl der Gestaltungsmöglichkeiten von Präparaten zu erweitern. Das könnte zu einem Insulin mit einem anderen Wirkungsprofil führen, das die Blutzuckerschwankungen der Patienten reduziert – was nach wie vor eine große Herausforderung ist“, sagt Bohr.
Jensen ist überzeugt, dass die neuen Erkenntnisse alle Arten von neuen Insulinen optimieren und für die mehr als 40 Millionen Kinder und Erwachsenen, die täglich Insulin einnehmen, einen Unterschied machen können. Das Leben als Diabetiker ist immer noch nicht ohne Probleme: „Ich erhalte manchmal Anfragen von Eltern, die fragen, ob es etwas Besseres für die Behandlung ihrer kleinen Kinder gibt. Wenn ein Mensch einen schlecht eingestellten Typ-1-Diabetes hat, kann er sich über lange Zeiträume hinweg schlecht fühlen. Man kann unter anderem mit Albträumen aufwachen, sich wegen niedrigen oder hohen Blutzuckerkonzentrationen unwohl fühlen, Gefahr laufen, aufgrund von Unterzuckerung das Bewusstsein zu verlieren und später im Leben Folgeschäden an Augen und Füßen zu erleiden. Wenn also das Leben von Kindern durch die Herstellung von besserem Insulin verbessert werden kann, dann ist das fantastisch“, sagt Jensen.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Universität Kopenhagen. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: CHUTTERSNAP, Unsplash