Das Phänomen „Hören“ birgt noch zahlreiche Rätsel. Eines davon: Auf welche Weise gelingt die Wandlung von Schallwellen in elektrische Signale, die das Gehirn weiterverarbeiten kann? Nun wurde ein Mechanismus entschlüsselt, der entscheidend für den Vorgang ist.
Das Phänomen ist bis heute unverstanden: Die Hörforschung hat bisher nur theoretische Annahmen darüber, wie genau in der Haarzelle der Botenstoff in winzigsten membran-umhüllten Containern (synaptische Vesikel) transportiert und für die Freisetzung vorbereitet wird. Sie konnte bislang nicht klären, auf welche Weise die Freisetzung von Botenstoffen in der Haarzelle dabei so außerordentlich effektiv und kontrolliert erfolgt. In der klassischen Theorie der sogenannten vesikulären Transmitterfreisetzung wird davon ausgegangen, dass es einzelne synaptische Vesikel sind, die mit der Zellmembran fusionieren (uniquantale Freisetzung). Dagegen besteht im Bereich der Hörforschung seit etwa zwei Jahrzehnten die Annahme, dass jedes Freisetzungsereignis durch mehrere Vesikel befördert wird. Bei der angenommenen sogenannten synchronen multiquantalen Freisetzung wurde bisher von einer mehr oder weniger synchronisierten Fusion von im Mittel sechs Vesikeln ausgegangen.
Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und zweier Max-Planck-Institute schlagen nun auf der Grundlage neuer experimenteller Ergebnisse und theoretischer Modelle eine Abkehr von der Annahme einer synchronisierten multiquantalen Freisetzung vor. Sie haben Hinweise gefunden, dass an der aktiven Zone der Haarsinneszelle die uniquantale Freisetzung vorherrscht. Diese wird allerdings durch das Verhalten der Fusionspore – einer Eiweißpore, die die Fusion der Membranen initialisiert – reguliert. „So wird Vieles besser erklärbar: etwa die Vielfalt der Erregungsmuster, die wir beobachten können, und ihre mögliche Regulation in der Haarzelle. Auch die Effizienz der Kodierung von Hörreizen an der Haarzellsynapse wird nachvollziehbar, wenn wir davon ausgehen können, dass ein Nervenimpuls durch die Freisetzung eines einzelnen Vesikels ausgelöst wird“, sagt Prof. Dr. Tobias Moser, Sprecher des SFB 889 „Zelluläre Mechanismen Sensorischer Verarbeitung“ und einer der Senior-Autoren der Studie. Modell einer Bändersynapse der Haarsinneszelle, rekonstruiert aus elektronenmikroskopischen Aufnahmen. Dunkelblau und hellblau kennzeichnen die prä- und postsynaptische Membran, die sich unmittelbar gegenüber liegen. Zwischen beiden Membranen befindet sich der synaptische Spalt, in den der Botenstoff freigesetzt wird. Das rote Ellispoid stellt das synaptische Band dar, welches von vielen synaptischen Vesikeln (Quantum, grau) umgeben und an der Membran durch elektronendichte Eiweißnetzwerke (rosa) verankert wird. Die Freisetzung des Botenstoffs Glutamat erfolgt aus synaptischen Vesikeln, wenn deren Membran mit der präsynaptischen Membran verschmilzt (Membranfusion). © Grafik: umg/moser In früheren Forschungsarbeiten hatten Prof. Moser und Kollegen bereits die Freisetzungsrate an den Synapsen auf maximal 700 Vesikel pro Sekunde geschätzt. Bei einer synchronisierten Freisetzung von sechs Vesikeln, würde dies in der Hörnervenfaser bestenfalls zirka 100 Nervenimpulse pro Sekunde auslösen. Die Hörnervenfasern können jedoch mindestens zwei- bis dreimal so oft „feuern“. Diese Diskrepanz und andere Widersprüche motivierten die Forscher die bisher weitgehend akzeptierte multiquantale Hypothese der Freisetzung zu hinterfragen. Es wurden die zwei führenden Modelle der multiquantalen Freisetzung experimentell und theoretisch untersucht und nicht bestätigt. Auf der Suche nach einer alternativen Erklärung fanden die Göttinger Forscher schließlich zahlreiche Hinweise für die uniquantale Freisetzung und konnten deren Plausibilität durch Modellbildung weiter erhärten.
„Diese Studie zeigt beispielhaft, wie komplexe neurobiologische Probleme durch das Zusammenspiel von Theorie und Experiment erfolgreich angegangen werden können. Vorhersagen aus den mathematischen Modellen konnten experimentell getestet werden“, sagt Prof. Dr. Fred Wolf, Sprecher des Bernstein Zentrum für theoretische Neu-rowissenschaften (BCCN) und Senior-Autor der Studie. Dabei war die Kombination mehrerer experimenteller Methoden in dieser multidisziplinären Studie von entscheidender Bedeutung für die Konstruktion der mathematischen Modelle. „Die experimentelle Bestimmung der Größe der synaptischen Vesikel an der Plasmamembran widersprach dem, was nach den Modellen der multiquantalen Freisetzung an Vergrößerung der synaptischen Vesikel kurz vor ihrer Fusion mit der Plasmamembran zu erwarten gewesen wäre“, sagt Dr. Carolin Wichmann, Leiterin der Arbeitsgruppe Molekulare Architektur von Synapsen in der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Senior-Autorin der Studie. „Der Nutzen der höchstauflösenden Lichtmikroskopie in den Lebenswissenschaften wird in dieser quantitativen Studie zur synaptischen Schallkodierung sehr deutlich. Die mit der STED-Mikroskopie erfasste Verteilung der Glutamatrezeptoren bildet die Grundlage für die sehr effiziente Übertragung“, sagt Prof. Dr. Stefan Hell, Direktor am MPI für biophysikalische Chemie und diesjähriger Chemie-Nobelpreisträger.
Die Hörnervenfaser scheint über eine große Zahl von Glutamatrezeptoren freigesetztes Glutamat optimal für die Erregung zu nutzen. Dies ermöglicht einen im Nervensystem sehr ungewöhnlichen, aber extrem effizienten eins-zu-eins Umtausch von Vesikel und Nervenimpuls. Ein weitere spannende Erkenntnis der Göttinger Forscher ist: die angenommene Regulation der uniquantalen Freisetzung wird durch eine sich dynamisch verändernde Fusionspore reguliert. Auf diese Weise können die in Größe und Zeitverlauf verschiedenen Erregungsmuster der Hörnervenfaser erklärt werden. Dabei scheint die Fusionspore sowohl durch Kalziumionen als auch durch das „Schalten“ des benachbarten Kalziumkanals beeinflusst zu werden. Dies ermöglicht eine weitere Ebene der Regulation der Transmitterfreisetzung. Nun sind weitere Untersuchungen erforderlich, um die neue Hypothese zu überprüfen und die postulierte Regulation der Fusionspore zu analysieren. Über den Vorgang der Freisetzung gibt es verschiedene Hypothesen, die sich vor allem in der Zahl der beteiligten Vesikel (mehrere: multiquantale Freisetzung oder eines: uniquantale Freisetzung) unterscheiden. In der aktuellen Studie wurden Hinweise auf das Vorliegen der uniquantale Freisetzung gewonnen. Die Messungen und Modelle sprechen für die Freisetzung des Botenstoffs durch irreversible Fusion (A), transiente Fusion (B und C) wobei sich die Fusionspore auch mehrfach öffnen und Botenstoff freisetzen kann (C). Die Fusionspore unterliegt offenbar einer zellulären Regulation die verschiedenartige Freisetzungsereignisse bedingen kann und so die synaptische Übertragung zwischen Haarsinneszelle und der Hörnervenzelle verändern kann. © Grafik: umg/moser Originalpublikation: Uniquantal Release through a Dynamic Fusion Pore Is a Candidate Mechanism of Hair Cell Exocytosis. Nikolai Chapochnikov et al.; Neuron, doi: 10.1016/j.neuron.2014.08.003; 2014