Es sind emotional herausfordernde Rettungseinsätze: Manchmal kommt für einen Patienten jede Hilfe zu spät. Aber nur, weil wir nichts mehr tun können, heißt das lange nicht, dass wir nichts mehr tun können.
Die Einsätze, die mir Tränen in dir Augen treiben und mich nachhaltig berühren, sind nicht unbedingt die blutigsten, nicht die, bei denen es schnell gehen muss – wie bei Massen von Verletzten oder beim Patienten mit Polytrauma.
Es sind Momente, die viel weniger spektakulär sind, aber dafür umso emotionaler.
„Bitte … schauen Sie nach ihm … bitte!“
Zitternd und völlig aufgelöst führt uns eine alte Dame zum Ehebett, in dem ihr Mann liegt – regungslos. So, als würde er schlafen. Mit flehendem Blick schaut sie uns an und ihre Stimme versagt.
Wir tun das, was wir tun müssen: innerhalb weniger Sekunden entscheiden, ob wir hier noch helfen können. Die Augen des Mannes sind halb geöffnet, die Pupillen lichtstarr und entrundet. Seine Hände lassen sich nicht mehr öffnen und die im Ohr gemessene Temperatur beträgt 23,1 Grad. Es gibt noch weitere Dinge, die mir sagen, dass es leider zu spät ist. Sichere Todeszeichen, die mir zeigen, dass dieses Leben zu Ende gegangen ist, wohl schon vor mehreren Stunden.
Hier können wir nichts mehr für den Patienten tun – aber sehr wohl für dessen Ehefrau. Dafür braucht es keine weiteren Worte unter uns Kollegen. Ein Blick genügt und plötzlich ist nicht mehr wichtig, wie schnell und effektiv wir arbeiten: Das Einzige, was jetzt zählt, ist, für diese Frau da zu sein. Sie aufzufangen, ihr zuzuhören und ihr das Gefühl zu geben, in diesem Moment nicht allein mit sich zu sein. Auch das gehört zur Arbeit des Rettungsdienstes.
Ich gehe mit ihr ins Nebenzimmer.
Jeder reagiert anders in solch einer Situation, denn das Begreifen ist in diesem Moment kaum möglich. Es braucht Zeit. Die Dame ist fahrig, aufgelöst: „Wie kann das sein? So plötzlich?! Gestern war doch noch alles in Ordnung … Er sagte, er merkt sein Herz … aber das lag doch am Wetter!“
Diese Worte mögen für uns unverständlich oder unlogisch klingen, aber für diese Frau bricht gerade eine Welt zusammen, denn sie hat ihren Mann verloren, mit dem sie über die Hälfte ihres Lebens gemeinsam verbracht hat.
Es ist auch nicht wichtig, was ein Mensch in diesem Moment sagt. Wichtig ist nur, zuzuhören, nicht zu widersprechen und vor allem, nicht zu belehren. Auch wenn man selbst weiß, dass der Patient mit Sicherheit nicht gesund war und das Wetter sicher nicht der Grund für die gestrigen Herzbeschwerden war. Es ist unwichtig! Unwichtig in dieser Situation – auch wenn wir uns in Gedanken natürlich ein Bild zusammensetzen, während wir mit den Angehörigen sprechen.
„Er war vor zwei Wochen krank … hat kaum etwas gegessen, aber seit zwei Tagen aß er wieder gut.“
„Er nahm doch Tabletten für den Blutdruck, er war damit doch gesund!“
Nein, er war nicht gesund, aber das ist jetzt egal. Ich merke mir all das für die Übergabe an den Arzt, aber ich kommentiere es nicht kritisch oder hinterfrage es. Hier ist eine Frau, die ihren Mann verloren hat und sie hat ein Recht auf ihre eigene Realität, wenn ihr das hilft.
Während sie nervös beginnt, die Wohnung aufzuräumen und Dinge von einem auf den anderen Platz zu stellen, bittet sie mich pausenlos, mich doch zu setzen – sie ist ein höflicher und zuvorkommender Mensch. Ich solle mich auch nicht um sie kümmern, denn wir hätten bestimmt „Wichtigeres“ zu tun. Doch ich nehme ihre Hand: „Wir sind jetzt für Sie da. Bitte machen Sie sich um uns keine Sorgen, ja?“ In diesem Moment, in dem sie mich so hilflos anschaut, stehen uns beiden die Tränen in den Augen, so als realisiere auch sie so langsam die traurige Wahrheit. Es ist ein unausgesprochenes Danke.
Ich helfe ihr, die Nummer ihrer Tochter zu wählen und setze mich mit ihr an den Küchentisch, weil es ihr ein Bedürfnis ist, dass ich mich ebenfalls setze. Ich höre mir die Geschichten von damals an und betrachte lächelnd die vielen Fotos an der Wand aus vergangenen Tagen und während sie so spricht und sich erinnert, lächelt auch sie. Als sie über ihren wundervollen Garten spricht, den sie gemeinsam bewirtschaftet haben oder von den Urlauben an der See und vom gemeinsamen Haus.
Ich höre zu und sauge auf. Aber ich verurteile sie für nichts. Nicht für ihre innere Unruhe. Nicht dafür, dass es ihr wichtig ist, jetzt noch die Küche aufzuräumen, bevor ihre Tochter kommt. Nicht dafür, dass sie ohne Punkt und Komma redet. Aus all den Geschichten und aus all den Informationen suche ich mir gedanklich alles Wichtige heraus. Das Bild des Patienten und dessen Vorgeschichte setzt sich zusammen – das Bild eines Lebens, das ich nicht mehr retten konnte.
Aber eins, das konnte ich: Ich konnte für diese Frau da sein in dem Moment, als sie dringend jemanden brauchte. Und ich konnte ihr Halt geben, ein offenes Ohr und Verständnis. Dann übergab ich sie in die guten Hände der Notfallseelsorge und in die Arme ihrer Tochter, die kurze Zeit später eintraf.
Diese Frau habe ich nie vergessen. Nicht sie, nicht ihren Mann und nicht ihre Geschichten. Sie hat einem leblosen Patienten, der uns keinerlei Emotion mehr senden oder etwas über sich berichten konnte, ein Gesicht gegeben. Dank ihr und ihren liebevollen Erzählungen hatte ich das Gefühl, diesen wunderbaren Ehemann und Familienvater ein Stück weit gekannt zu haben.
Diese Momente prägen und lehren uns, nicht zu vergessen, dass jeder Mensch etwas ganz Besonderes ist und bleibt.
Auch nach seinem Tod.
Bildquelle: freddie marriage, unsplash