Ob im Krankheitsfall, zur Genesung, für den Unterricht oder die Kita – in diesem Land braucht es für jede Eventualität eine Bescheinigung. Für uns Ärzte ist das eher lästig als sinnvoll.
Ich muss jetzt endlich mal etwas loswerden: Für uns in den Kinder- und Jugendarztpraxen gibt es wenig Nervigeres als Bescheinigungen, Bescheinigungen, Bescheinigungen. Zettel für Unterrichtsausfälle, für Vereinssport, fürs Kranksein und wieder Gesundwerden, für den Kindergartenbesuch, vor Kuren oder Krankenhausaufenthalten, vor ambulanten Operationen, für irgendwelche stattgehabten Impfungen und und und.
Ganz ehrlich: Die meisten dieser Bescheinigungen sind nur bürokratische Krücken, damit andere (vor allem Kindergärten und Schulen) sich nicht selbst um Kontrollen irgendwelcher Dinge kümmern müssen. Es wird in die „amtlichen“ Hände der Ärzte gelegt, denn dann bekommt es einen offiziellen Touch – man kann was abheften. Schön deutsch, irgendwie.
Ich meine nicht, ob ein Kind nicht mehr infektiös ist oder keine Läuse oder Würmer mehr hat oder dergleichen (diese Zettel haben wir schon längst abgeschafft, das Infektionsschutzgesetz definiert zum Glück nur eine Handvoll relevanter Krankheiten, die gesundgeschrieben werden müssen) – sondern die Bescheinigung nach Kindergartengesetz, in Baden-Württemberg beispielsweise § 4 des Kindertagesbetreuungsgesetzes KiTaG: „Jedes Kind ist vor der Aufnahme in eine Einrichtung oder Kindertagespflege ärztlich zu untersuchen.“
Großzügig wird die letzte Vorsorgeuntersuchung bescheinigt (meist U6 bis U7a), wenn diese nicht länger als 12 Monate zurückliegt. Da es sich um eine behördliche Anordnung handelt und keine Leistung der Krankenkassen ist, dürfen die Praxen dafür eine Gebühr verlangen (meist 3 bis 5 Euro). Gibt es keine zeitnahe Untersuchung, darf sogar ein Honorar für eine körperliche Untersuchung angesetzt werden (meist 20 bis 30 Euro). Das ist oft schon schwer, den Eltern zu vermitteln. Ärzte dürfen jedoch nach Standesrecht keine kostenlosen Leistungen erbringen (MBO-Ä § 12).
Mich ärgert eher die Sinnhaftigkeit der Bescheinigungen: Wir attestieren nämlich in der Regel, dass „keine Bedenken“ gegen den Besuch einer Betreuungseinrichtung vorliegen. Seit Neuestem wird dies durch die Bescheinigung der zwei verpflichtenden Masernschutzimpfungen ergänzt.
Dereinst hatte ich Bedenken geäußert, weil ein Dreijähriger im Rollstuhl in die Betreuungsgruppe im ersten Stock sollte. Heute leben wir Inklusion: Jedes Kind soll mit allen Kindern zusammen betreut werden (anderes Thema, aber: Wie oft wurde Eltern nahegelegt, sich eine andere Kita-Gruppe zu suchen, weil die Erzieher sich nicht in der Lage sahen, dem Kind Notfallmedikamente gegen den Fieberkrampf oder die allergische Reaktion zu geben?).
Ich wollte auch Bedenken äußern, weil ein Kind nicht alle empfohlenen Impfungen bekam. Bedenken dürfen da schon angebracht sein, wenn kein Schutz gegen Windpocken, Keuchhusten oder Tetanus da ist. Bedenken für das Indexkind, Bedenken für alle anderen Kinder. In solchen Fällen gehen ganz schnell die Kitas auf die Barrikaden. Ich hatte schon Anrufe von der Stadt und kirchlichen Trägern, dass sich die Eltern ärgern – verständlich. Aber dann sollten wir diese Zettel auch abschaffen, wenn sie keine Bedeutung oder Konsequenz haben.
Ärztliche Atteste vor und nach den Ferien oder bei drohendem Schulschwänzen – eines der heiß diskutierten Themen auf Twitter. Ich kann die Seite der Lehrer ja verstehen – irgendeine Kontrolle muss es geben, wenn Schüler wiederholt fehlen. Fakt ist aber, dass laut den Schulgesetzen in den meisten Bundesländern (ja, es gibt Unterschiede) erst nach 10 zusammenhängenden Tagen ein ärztliches Attest vorliegen muss. Bis dahin reicht die Entschuldigung der Eltern aus.
Wobei diese 10 Tage oft seeehr frech ausgelegt werden: Daraus werden dann schon einmal 10 über das Schulhalbjahr verteilte Tage, oder der Klassenlehrer beschließt kurzerhand einfach eine Attestpflicht. Fakt ist, dass diese Attestpflicht bei einer Schulkonferenz im Austausch mit Schülern und Eltern erfolgen muss.
Ja, auch diese Bescheinigungen kosten Geld. Ja, auch diese Bescheinigungen werden oft erschummelt, indem beispielsweise verschiedene Arztpraxen aufgesucht werden oder weil auf Listen Praxen gesammelt werden, in denen die Schüler beim Vorbeigehen am Tresen ein Attest bekommen. Aber Hauptsache, die Schulen haben einen Zettel zum Abheften und die Verantwortung liegt woanders.
Spätestens seit den Belastungen für die Schüler durch Corona ist die Zahl der Schulverweigerer extrem angestiegen. Ja, das ist ein großes Problem. Wenn allerdings Schüler mit anamnestischen Symptomen in der Praxis ankommen, warum sollte ich ihnen nicht glauben? Ich muss von Berufswegen Vertrauen in ihre Aussagen haben. Immerhin tut das die Schule ohnehin schon nicht mehr.
Eine Häufung von Fehltagen in der Schule hat aber meist eben keine medizinische Ursache, sondern in aller Regel eine soziale, familiäre oder schulische und sollte entsprechend auch durch die Schulen, den Vertrauenslehrer oder Sozialarbeiter dort bearbeitet werden. Die Attestpflicht setzt die Schüler nur unter weiteren Druck, uns in den Praxen Symptome vorzuspielen oder – wenn sie tatsächlich echte, aber milde Krankheiten haben, doch in die Schule zu gehen, um die Peinlichkeit zu umgehen, in die Praxis kommen zu müssen.
Wir hatten dieses Jahr eine der anstrengendsten Krankheitssaisons seit Langem – Covid, RSV und Grippe sei Dank. Zusätzlich die Kinder zu betreuen, die „nur“ Bescheinigungen brauchen oder einer Attestpflicht unterliegen, blockiert Termine für wirklich Kranke. Glücklicherweise haben Schulen und Betreuungseinrichtungen in manchen Regionen die Lage erkannt und verzichten großzügig auf unnötige Atteste. Vielleicht gelingt das auch noch woanders, eventuell ja sogar bei den Kindergartenbescheinigungen.
Wie ist Eure Meinung zu dem Thema? Erfahrungen? Auf Twitter wurde hierzu schon viel diskutiert.
Bildquelle: Sear Greyson, Unsplash