Bei Ärzten herrschen erhebliche Unsicherheiten, wenn der Verdacht auf Kindesmisshandlung im Raum steht. In unserem Interview erfahrt ihr, wie die Medizinische Kinderschutzhotline euch unterstützen kann.
Kinderschutz ist ein Thema von großer Bedeutung. Die Medizinische Kinderschutzhotline bietet telefonische Beratung für Fachpersonal bei Verdachtsfällen von körperlicher und emotionaler Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch. Das nachfolgende Interview gibt einen Überblick über das Projekt und die Relevanz von Kinderschutz.
Die Medizinische Kinderschutzhotline ist ein bundesweites und kostenlos erreichbares telefonisches Beratungsangebot bei Kinderschutzfragen. Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Die Projektleitung hat Prof. Jörg M. Fegert von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm. Wann wurde das Projekt ins Leben gerufen und gab es einen bestimmten Anlass dafür?
Medizinische Kinderschutzhotline: Wir beraten seit 2017, die Vorbereitungen haben etwa ein Jahr gedauert. Der Auslöser war eine Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes. Dieses ermöglicht schweigepflichtigen Fachkräften seit 2012, ohne Bruch der Schweigepflicht unter bestimmten Voraussetzungen das Jugendamt zu informieren.
Eine Evaluation der Uniklinik Ulm hat gezeigt, dass nicht nur das Gesetz weitgehend unbekannt war, sondern dass aufseiten von Ärzten erhebliche Unsicherheiten in der Erkennung von Misshandlungen und dem möglichen und erlaubten Vorgehen bei Verdacht bestand. Und nicht zuletzt haben Fälle, in denen Kinder durch Misshandlung oder Vernachlässigung zu Tode gekommen sind, gezeigt, dass häufig mangelnde Kommunikation zwischen beteiligten Profis wie Ärzten und Jugendämtern einen wirksamen Schutz verhindert hat.
Ihre Beratung richtet sich an Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe und an Mitarbeiter an Familiengerichten. Welche Fachgruppe wendet sich am häufigsten an die Kinderschutzhotline und was ist eine typische Situation, in denen die Hotline zurate gezogen wird?
Medizinische Kinderschutzhotline: Ungefähr gleich häufig rufen Kinderärzte und Kinder- und Jugendlichenpsychiater und -psychotherapeuten bei uns an. Das überrascht nicht, weil sie am häufigsten mit Kindern zu tun haben. Aber schon die dritthäufigste Fachdisziplin sind Erwachsenenpsychiater und -psychotherapeuten, die sich Sorgen um die Kinder ihrer Patienten machen. Entsprechend unterscheiden sich auch die konkreten Fragen.
Bei den somatisch tätigen Pädiatern sind es üblicherweise Verletzungen, die auch misshandlungsbedingt entstanden sein könnten oder der konkrete Verdacht auf sexualisierte Gewalt aufgrund elterlicher Sorge oder medizinischer Befunde. Andererseits sind es eher Verhaltensauffälligkeiten oder konkrete Aussagen von Kindern und Jugendlichen, die auf emotionale Misshandlung oder sexualisierte Gewalt hindeuten, die für die behandelnden Psychiater und Psychotherapeuten der Grund sind, eine Beratung zu suchen. Eine typische Situation ist die Vorstellung eines Kindes in der Notaufnahme (oder Kinderarztpraxis), der begleitende Elternteil vermutet, der getrennt lebende Elternteil (oder dessen neuer Partner), habe sexualisierte oder körperliche Gewalt gegen das Kind ausgeübt. Dies können sehr vage Vorwürfe bis hin zu sehr konkreten Hinweisen sein und löst häufig Unsicherheit bei den beteiligten Fachkräften aus.
Die Kinderschutzhotline ist 24 Stunden und 365 Tage im Jahr erreichbar. Ihr Team besteht aus zertifizierten Kinderschutzmedizinern, die aus verschiedenen Bereichen wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendmedizin sowie Rechtsmedizin kommen. Wie gestaltet sich der typische Ablauf einer Beratung und wie sehen die nächsten Schritte aus?
Medizinische Kinderschutzhotline: Das hängt davon ab, welchen Beratungsbedarf die Anrufenden mitbringen. Üblicherweise wird zunächst der anonymisierte Fall geschildert und die Aufgabe der Berater ist es, die Anrufer zu unterstützen, einen Beratungsauftrag zu formulieren. Das kann z. B. die Einschätzung von gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung oder aber die Frage nach dem nächsten sinnvollen Schritt sein.
Wenn beispielsweise Kinder gegenüber einer Fachkraft berichten, zu Hause körperlicher Gewalt ausgesetzt zu sein, ist den Anrufenden üblicherweise bewusst, dass es sich hier um gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung handelt. Wenn aber die Kinder sich unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut haben und keinesfalls wollen, dass die Fachkraft das mit den Eltern bespricht, gilt es abzuschätzen, welche Schritte zum Schutz der Kinder führen können.
Doch mit den Eltern zu sprechen, um auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinzuwirken? Oder gefährdet man damit das Kind zusätzlich? Gleich das Jugendamt informieren? Was, wenn das Kind das nicht möchte, weil es fürchtet, ins Heim zu kommen oder Schuld daran zu sein, wenn die Familie kaputt geht? Dann geht es in der Beratung darum, gemeinsam eine Gefährdungseinschätzung zu versuchen – was ist von der Familie bekannt? Gab es schon Gespräche zwischen Fachkraft und Eltern? Sind die Jugendlichen in einem Alter, wo sie sich selbst ans Jugendamt wenden könnten, um aus erster Hand zu erfahren, wie das Jugendamt vorgeht? Gegebenenfalls muss den Kindern altersangemessen erklärt werden, was die Aufgaben des Jugendamtes sind, um ihnen so Ängste zu nehmen.
Es muss geprüft werden, welche Möglichkeiten zum Schutz der Kinder die Fachkraft aus ihrer beruflichen Rolle heraus hat. Eventuell wird der Rechtsrahmen erläutert – dass nach Bundeskinderschutzgesetz nach Ausschöpfen der eigenen Möglichkeiten die ausdrückliche Befugnis besteht, auch gegen den Willen der Betroffenen das Jugendamt zu informieren, aber auch, welche Informationen das Jugendamt braucht, um sinnvoll vorgehen zu können.
Es existieren verschiedene Formen der Kindeswohlgefährdung, darunter Vernachlässigung, psychische und körperliche Misshandlung sowie sexueller Missbrauch. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Hinweise, bei denen an eine Kindeswohlgefährdung gedacht werden muss?
Medizinische Kinderschutzhotline: Ärzte sehen oft körperliche Befunde, die auf körperliche und/oder sexualisierte Gewalt hindeuten können. Alle körperlichen Verletzungen bei kleinen Kindern, für die es keine gute Erklärung gibt, müssen hinterfragt werden. Das gilt für Hämatome und Frakturen ebenso wie für Verbrennungen, Verbrühungen und Hinweisen auf eine intrakranielle Verletzung.
Vielen anderen Berufsgruppen, insbesondere natürlich Psychotherapeuten offenbaren sich Kinder direkt und berichten von Misshandlungen oder sexualisierter Gewalt oder die Kinder zeigen erhebliche Verhaltensauffälligkeiten, die zwar meist unspezifisch sind, aber eben auch mal auf emotionale Vernachlässigung oder Misshandlung hinweisen können.
Haben Sie Empfehlungen, wie medizinisches Fachpersonal vorgehen sollte, falls ein konkreter Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung vorliegt?
Medizinische Kinderschutzhotline: Da gibt das Bundeskinderschutzgesetz, konkret der § 4 KKG, einen recht klaren Fahrplan vor. In den meisten Fällen sind ja die Eltern trotz allem meine ersten Ansprechpartner. Wenn ich eine Vernachlässigung vermute oder ein Erziehungsverhalten, welches eine Kindeswohlgefährdung darstellen könnte, bin ich gehalten, das zunächst mit den Eltern zu besprechen und gemeinsam zu klären, was die Familie braucht, um die Situation für das Kind zu verbessern und wer diese Hilfen anbietet und finanziert.
Komme ich mit den Eltern entweder nicht weiter oder habe ich primär die Sorge, dass ein Gespräch die Gefährdung des Kindes eher verstärken könnte, dann bin ich befugt, das Jugendamt zu kontaktieren und die notwendigen Informationen weiterzugeben. Das löst einen Prüf- und Schutzauftrag beim Jugendamt aus.
Konnten Sie einen Wandel von Beratungsanlässen beobachten, seit die medizinische Kinderschutzhotline existiert?
Medizinische Kinderschutzhotline: Während der COVID-19-Pandemie, vor allem während der Lockdowns, war ein häufiger Beratungsanlass, dass bereits ohnehin gefährdete Kinder jetzt gar nicht mehr in der Kinderarztpraxis, in der Logopädie, Psychotherapie oder anderen Einrichtungen gesehen wurden und man sich erhebliche Sorgen machte, wie die zusätzlichen pandemiebedingten Belastungsfaktoren sich wohl auf die Situation des Kindes auswirken würden.
Ansonsten sehen wir, dass immer dann, wenn wir in bestimmten Fachrichtungen bekannter werden, von dort auch die Anrufe zunehmen. Nach einem Beitrag in einer zahnärztlichen Fachzeitschrift erhielten wir zum Beispiel eine ganze Reihe von Anrufen aus Zahnarztpraxen, die im Bezug auf dentale Vernachlässigung beraten werden wollten. Das spricht für einen erheblichen Beratungsbedarf und eine große Dunkelziffer: Überall dort, wo man von einem niedrigschwelligen Beratungsangebot wie unserem erfährt, häufen sich Beratungsanlässe, die uns zurückmelden, dass man bisher aus Unwissenheit oder Sorge um rechtliche Konsequenzen nicht tätig geworden sei.
Kindeswohlgefährdung ist ein Thema, dass Sie und die anderen Mitarbeiter der Kinderschutzhotline sicherlich auch nach Feierabend nicht so einfach loslässt. Wie schaffen Sie es, die Schicksale und Anfragen nicht zu sehr an sich heranzulassen?
Medizinische Kinderschutzhotline: Wie in vielen anderen Bereichen des Lebens, ist hier die Dosis entscheidend – und auch das ändert sich individuell oder je nach Lebensabschnitt. Jeder von uns muss laufend prüfen, ob es ihm in der Gesamtschau gerade gut geht oder ob ein Mehr an kollegialem Austausch oder Supervision oder auch eine Auszeit vom Kinderschutz notwendig sind.
Wir sind unabhängig vom Kinderschutz als Ärzte auch in der Pflicht, uns klar zu machen, dass wir nicht unverwundbar sind. Sich bei Bedarf Unterstützung zu holen, ist nicht Zeichen mangelnder Belastbarkeit, sondern hochprofessionell und erwächst letztlich aus unserer Verantwortung unseren Patienten gegenüber. Sie haben in ihrer Situation die bestmögliche Hilfe verdient, die sie bekommen können und das setzt gesunde Helfer voraus.
Beitrag ist in Zusammenarbeit von Inga Haas, Janica Nolte, Natascha van den Höfel und Fiona Walter entstanden.
Bildquelle: Alex Andrews/Unsplash