Aufgaben, die problemlösendes Denken erfordern, stressen weniger als reproduktive Aufgaben, die nur vorhandenes Wissen aus dem Gedächtnis abrufen. Das fand Dr. Nina Minkley von der Ruhr-Universität Bochum bei Schülern heraus, deren Cortisolspiegel sie analysierte.
Dr. Nina Minkley aus der Arbeitsgruppe Verhaltensbiologie und Didaktik der Biologie untersucht, welche Situationen bei Schülern den Stresshormonpegel ansteigen lassen. „Ich glaube, Stress hat einen viel größeren Einfluss, als wir heute alle ahnen“, sagt Nina Minkley. „Mein großes Ziel ist es herauszufinden, was Schüler im Schulalltag stresst und darauf aufbauend didaktische Methoden zu entwickeln, mit denen man dem Stress entgegenwirken kann.“ Studien zu dem Thema gibt es schon seit Jahrzehnten. Um zu ermitteln, wie gestresst Schüler sich in bestimmten Situationen fühlen, setzen Wissenschaftler in der Regel Fragebögen ein. Nina Minkley verfolgt einen anderen Ansatz. Sie erfasst zusätzlich, wie sich die Menge des Stresshormons Cortisol im Speichel verändert. Vergangene Untersuchungen haben ergeben, dass die subjektive Wahrnehmung nicht mit dem Cortisolspiegel zusammenhängt. Eine Person kann sich gestresst fühlen, aber trotzdem ein niedriges Cortisollevel aufweisen, und umgekehrt. Ist nun Stress fühlen problematisch? Oder Stresshormone ausschütten?
„Natürlich sollten Schüler sich nicht übermäßig gestresst fühlen. Aber man möchte auch nicht, dass jemand sich gut fühlt, aber trotzdem einen dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel hat“, so die RUB-Forscherin. Denn das Hormon wirkt auf eine ganze Reihe von physiologischen Prozessen; es erhöht zum Beispiel den Blutdruck und fährt das Immunsystem herunter. Auf Dauer kann das zu chronischen Erkrankungen führen. Für ihre Studien entwickelte Nina Minkley zunächst einen Stresstest, der den Cortisolspiegel von Schülern in die Höhe treibt. „In meiner Zeit als Lehrerin hatte ich immer den Eindruck, dass Aufgaben, die problemlösendes Denken erfordern, besonders schwierig für die Schüler sind“, erzählt sie. Also auch besonders stressig? Minkley konzipierte zwei zehnminütige Tests. Einer enthielt nur reproduktive Aufgaben, in denen die Schüler Wissen aus dem Gedächtnis abrufen mussten. Ein anderer bestand ausschließlich aus komplexen Aufgaben, für die die Teilnehmer einen eigenen Lösungsansatz erarbeiten oder Wissen auf eine neue Situation übertragen musten. An beiden Tests nahmen je circa 25 Biologieschüler aus der Oberstufe teil, die für einen molekularbiologischen Kurs ins Schülerlabor der Ruhr-Universität gekommen waren. Die Testfragen bezogen sich auf Inhalte, die sie im Rahmen des Kurses unmittelbar zuvor gelernt hatten.
Vor und nach dem Test sammelte Nina Minkley Speichelproben aller Probanden. Mit ihrer Hilfe bestimmte sie, wie sich der Cortisolspiegel durch den Test veränderte. Entgegen ihrer Erwartung stieg die Cortisolmenge durch die reproduktiven Aufgaben stärker an als durch die komplexen. „Ich war überrascht“, resümiert Minkley. „Auch über den deutlichen Cortisolanstieg, weil es nur ein zehnminütiger anonymer Test war.“ Nach dem gleichen Prinzip untersuchte sie anschließend, wie subjektives Stressgefühl und Cortisolspiegel mit dem Fähigkeitsselbstkonzept zusammenhängen, also dem Bild, das eine Person von ihrem eigenen Können besitzt. Um das Fähigkeitsselbstkonzept für das Fach Biologie zu erfassen, bewerteten die Schüler eine Reihe von Aussagen, zum Beispiel „Biologie fällt mir leicht“ oder „Ich weiß häufig die Antworten auf Fragen im Fach Biologie“. Später absolvierten die Teilnehmer einen Test. Vorher und nachher gaben sie Speichelproben für die Cortisolanalyse ab.
Je schlechter die Schüler ihr Biologiekönnen einschätzten, desto stärker stieg durch den Test die Menge des Stresshormons im Speichel. Die subjektive Angabe, wie gestresst sich die Schüler fühlten, war jedoch unabhängig vom Fähigkeitsselbstkonzept. Wie in anderen Studien zeigte sich also erneut, dass Cortisolspiegel und gefühlter Stress zwei unabhängige Maße sind. Cortisol lässt sich nicht nur kurzfristig im Speichel nachweisen, sondern auch im Haar – dort über Monate. Da das Haar kontinuierlich einen Zentimeter pro Monat wächst, weiß man, wann sich das Cortisol in welchem Abschnitt eingelagert hat. Mit dieser Methode verglich Minkley die Schülerinnen des doppelten Abiturjahrgangs, die nach acht (G8) beziehungsweise neun Jahren (G9) ihre Reifeprüfung absolvierten. Vier Wochen nach den Prüfungen sammelte sie von ihnen eine Haarsträhne ein und analysierte einen vier Zentimeter langen Abschnitt, den sie halbierte. Die eine Hälfte stammte aus der Vorprüfungsphase, die andere aus der Prüfungsphase.
Sowohl in der G8- als auch in der G9-Gruppe enthielt das Haar aus der Vorprüfungsphase weniger Cortisol als das Haar aus der Prüfungsphase. Allerdings fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Das heißt, Schülerinnen, die die weiterführende Schule in acht Jahren absolviert hatten, hatten laut statistischer Analyse nicht mehr Stresshormon produziert, als solche, die ein Jahr länger Zeit gehabt hatten. War also all der Trubel um G8/G9 umsonst? Die Frage lässt sich nicht abschließend klären. In absoluten Zahlen hatten die G8-Schülerinnen höhere Cortisolspiegel. Aber der Unterschied war nicht groß genug, um sich in der statistischen Analyse nachweisen zu lassen. Das kann zwei Gründe haben: Entweder gibt es einfach keinen Unterschied zwischen G8 und G9 oder es gibt ihn nicht mehr – denn zum Zeitpunkt des Tests hatten beide Jahrgänge schon zwei Jahre lang zusammen Unterricht gehabt. „In der Unter- und Mittelstufe hätten wir möglicherweise Unterschiede finden können. Denn da wurden die Schülerinnen noch getrennt voneinander unterrichtet, und die G8-er mussten sich in kürzerer Zeit auf die Oberstufe vorbereiten“, sagt Minkley. Die Frage wird ungeklärt bleiben, denn der doppelte Abiturjahrgang ist vorüber, weiterführende Untersuchungen können nicht mehr durchgeführt werden. Nina Minkley wird aber an anderen Stellen weiter nach Möglichkeiten suchen, Stressauslöser im Schulalltag zu finden und den Stress von Schülern zu mindern.