Ärztliche Bereitschaft und Rettungsdienst sollten Hand in Hand arbeiten. Aber wenn uns eine Ärztin sagt, wir sollen Patienten „gegen ihren Willen mitnehmen“, dann frage ich mich, was da schiefläuft.
116117: Die Nummer, die jeder kennen sollte. Man wählt sie, wenn man außerhalb der regulären Sprechzeiten ärztliche Hilfe benötigt, jedoch nicht lebensbedrohlich erkrankt ist, man mit seinen Beschwerden aber auch nicht bis zur nächsten Sprechstunde warten kann. „Egal ob gesetzlich oder privat versichert – der ärztliche Bereitschaftsdienst versorgt Sie schnell und unkompliziert.“ So wird auf der Seite 116117.de geworben. Aber, stimmt das denn?
Leider habe ich in meiner Rettungsdienstlaufbahn schon oft das Gegenteil erlebt. Dies ist ein persönlicher Erfahrungsbericht, der aufzeigen soll, welche Probleme immer wieder im Zusammenhang mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst entstehen – aber auch, wie gut die Zusammenarbeit funktionieren kann.
Einsatzstichwort: Hypertonie. Gemeinsam mit dem Notarzteinsatzfahrzeug werden wir spät abends zu einer älteren Dame alarmiert. Wir treffen mit dem Rettungswagen nur knapp vor dem Notarzt ein. Ein älterer Herr öffnet uns die Tür, seine Ehefrau ist gerade beim Toilettengang. „Sie sind ja schon da!? Das ging aber schnell!“, ruft es aus dem Badezimmer. Als die Dame nach einigen Minuten aus dem Badezimmer kommt, ist sie sichtlich irritiert von der Tatsache, dass dort Menschen in Uniform mit Notfallrucksack und Technischem Gerät vor ihr stehen. In dem Moment trifft auch der Notarzt nebst Rettungssanitäter ein. Das Ehepaar ist völlig überfordert mit der Situation und wir sind es auch. Uns wird ganz klar zu verstehen gegeben, dass hier alles andere als ein Notfall vorliegt. Was war geschehen?
Die ältere Dame leidet an einer bekannten Hypertonie, die seit Jahren mit Ramipril und Bisoprolol eingestellt ist. An diesem Abend hat sie, wie immer, ihren Blutdruck gemessen und festgestellt, dass dieser mit 190 systolisch relativ hoch für sie ist, dabei hat sie jedoch keinerlei Beschwerden. Weder Brustschmerzen, noch Schwindel oder Übelkeit. Sie ruft daraufhin beim ärztlichen Bereitschaftsdienst an, einzig und allein um zu erfragen, ob sie von ihren bereits verordneten Medikamenten zusätzlich eine Tablette einnehmen kann, um den Blutdruck vorm Schlafengehen zu senken. Der Disponent vom Bereitschaftsdienst sagt ihr am Telefon daraufhin, dass er jemanden vorbei schicke. Die Dame rechnet also damit, dass sich ein Arzt auf den Weg macht, der mit ihr alles Weitere bespricht. Der Disponent in der Telefonzentrale des ÄBD leitet den Einsatz jedoch direkt an die 112 weiter und bestellt RTW und NEF.
Nachdem wir also die Situation soweit erörtert haben und feststellen, dass dir Frau weder einen Rettungswagen bestellt hat, noch ins Krankenhaus möchte, wird diese natürlich trotzdem komplett untersucht – immerhin sind wir ja jetzt sowieso schon da. Alles unauffällig und auch der Blutdruck hat sich mittlerweile von selbst wieder auf 160 systolisch reguliert. Letztendlich gibt es die gewünschte Beratung noch gratis dazu, nur leider nicht von einem Arzt des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, sondern vom Notarzt, der dadurch jetzt gebunden ist und für einen wirklichen Notfall nun aktuell nicht zur Verfügung steht.
Erbost über diese Tatsache ruft der Notarzt bei der Zentrale des ärztlichen Bereitschaftsdienstes zurück und möchte klären, wie es zu solch einem Missverständnis kommen konnte und warum für sowas Rettungswagen und Notarzt geschickt werden, statt der Patientin die gewünschte Telefonberatung zu geben. Jedoch werden alle Aussagen vom Disponenten verweigert. Was bleibt, sind ein zu Recht erboster Notarzt, eine völlig überforderte Patientin, die sich tausendfach für die Umstände entschuldigt und zwei gebundene Rettungsmittel, die über einen Zeitraum von fast einer Stunde nicht für Notfälle zur Verfügung stehen konnten.
Wir werden zu einer Patientin alarmiert, die Corona-positiv ist – sie ist zu Hause gestürzt. Die Angehörigen schildern uns, dass sie sich Sorgen um die Patientin machen, da diese allein wohnt und seit der Corona-Infektion schwach auf den Beinen sei. Wegen der Infektionsgefahr und der Tatsache, dass man noch andere Verpflichtungen habe, können die Angehörigen sich jedoch nicht im vollen Umfang um die Dame kümmern und nicht regelmäßig nach ihr sehen. Das einfachste sei deswegen, die Frau ins Krankenhaus zu fahren, um sie dort „aufzupeppeln“.
Die Dame ist bei unserem Eintreffen komplett orientiert, gibt keinerlei Schmerzen an und berichtet uns, dass sie beim Gang auf die Toilette in sich zusammengesackt sei, weil sie so schwach auf den Beinen sei. Die Vitalwerte sind alle im Normbereich, wir stellen lediglich eine leichte Exsikkose fest. Die ältere Dame ist mündig, nicht dement und es liegt keine Betreuungsvollmacht vor. Sie versichert uns, dass sie NICHT wirklich gestürzt sei und sich auch nicht verletzt habe. Ein Sturz auf den Kopf wird explizit verneint, was für uns wichtig ist, da die Dame Blutgerinnungshemmer einnimmt. Die Patientin möchte auf keinen Fall in ein Krankenhaus. Auch nicht, als wir Bedenken aufgrund der allgemeinen Schwäche äußern. Die Familie wünscht daher eine Untersuchung durch einen Arzt, der ihr gegebenenfalls auch Medikamente verschreiben kann. Wir rufen also beim ärztlichen Bereitschaftsdienst an und schildern die Situation.
Wieder haben wir einen Disponenten in der Leitung, der sich die Patientendaten und unsere erhobenen Vitalwerte notiert. Ein Arzt würde sich demnächst bei der Familie melden. Auch diese Situation ist uns durchaus bekannt. Wenn wir Patienten vor Ort belassen, müssen wir sehr viel und sehr ausführlich dokumentieren, daher sind wir oft noch eine Weile vor Ort. Wir bekommen also oft noch mit, wenn der ÄBD bei den Patienten oder Angehörigen zurückruft.
In diesem Fall stellt die Angehörige das Telefon auf Laut und wir können hören, was die Ärztin, die nicht weiß, dass wir noch vor Ort sind, am Telefon sagt. Sie fordert die Angehörigen auf, erneut die 112 zu wählen, da die Mutter ja auf den Kopf gefallen sei und blutverdünnende Medikamente einnimmt. Sie könne daher nicht verantworten, dass die Patientin zu Hause bleibt. Ich lasse mir also das Telefon geben und kläre die Situation am Telefon auf. Ich berichtige, dass die Dame keineswegs auf den Kopf gefallen ist, sondern lediglich zusammengesackt sei. Außerdem schildere ich, dass die Patientin vollkommen orientiert ist und trotz Aufklärung der Risiken keinen Transport ins Krankenhaus möchte.
Daraufhin wird die Ärztin sehr forsch und unterstellt mir, dass ich die Patientin ja nur nicht ins Krankenhaus fahren wolle. Ich soll die Dame eben gegen ihren Willen mitnehmen, denn sie käme wegen so etwas nicht rausgefahren.
An dieser Stelle möchte ich die sehr umfangreichen, vom Gesetz her zugestandenen Patientenrechte ins Spiel bringen. Das Selbstbestimmungsrecht ist aus gutem Grund eines der Rechte in unserer Gesellschaft, die sowohl ethisch als auch juristisch den höchsten Stellenwert besitzen. Jeder Mensch hat das Recht, vollständig über seinen Aufenthaltsort und seine eigene Gesundheit zu entscheiden. Niemand darf einen Menschen gegen seinen rechtswirksamen Willen behandeln oder irgendwo hinbringen – auch der Rettungsdienst nicht. Das versuche ich der Ärztin am Telefon zu erklären, die mich daraufhin auffordert, dann „eben einen Notarzt” hinzuzuziehen, der das entscheiden soll. Sie legt daraufhin auf. Wir haben natürlich keinen Notarzt nachgefordert, denn diese sind sehr rar gesät und es gab letztendlich überhaupt keinen Grund dafür.
Ich habe Verständnis für die Situation des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Am Telefon lassen sich Patienten natürlich schwer einschätzen und man möchte auf Nummer sicher gehen. Wir wissen auch, dass die Telefonleitungen beim ÄBD zeitweise komplett überlastet sind (auch wir hängen hin und wieder in der Warteschleife) und wir können uns vorstellen, dass die Ärzte im Fahrdienst sehr viel zu tun haben. Dennoch sind das zwei Beispiele in denen es mir wirklich schwer fällt nachzuvollziehen, warum in diesen Situationen der Disponent und die Ärztin so gehandelt haben – und warum man sich uns gegenüber so unkollegial verhalten hat.
Leider kommen solche oder ähnliche Situationen immer wieder vor. Auch, wenn meine genannten Beispiele und Erfahrungen sich natürlich nur lokal abbilden lassen und womöglich nicht alle Rettungsdienst-Bereiche repräsentieren. An dieser Stelle würde mich natürlich auch interessieren, wie die Mitarbeiter vom ärztlichen Bereitschaftsdienst die Zusammenarbeit mit dem Rettungsdienst einschätzen und ob es auch dort Probleme gibt.
Wie entstehen diese Probleme? Ist es die allgemeine Überlastung im Gesundheitssystem? Personalmangel? Ungenügende Bezahlung oder gar Ressourcen? Auch der Rettungsdienst ist am Limit und die Einsatzzahlen steigen stetig. Eine bessere Zusammenarbeit wäre daher sehr wünschenswert. Denn im Endeffekt sollten wir doch alle im Sinne der Patienten handeln und miteinander arbeiten, statt gegeneinander.
Auch, wenn ich hier jetzt von zwei negativen Erlebnissen berichtet habe, gibt es auch sehr viele Einsätze, in denen eine Zusammenarbeit mit dem ÄBD gut funktioniert hat und man gemeinsam die beste Lösung für die Patienten gefunden hat. Sei es die Delegation einer Medikamentengabe durch uns vor Ort (z. B Paracetamol bei Fieber), oder die Übernahme und Weiterversorgung von Patienten. Insgesamt kann der ÄBD also eine große Entlastung für den Rettungsdienst sein. So wünsche ich mir das auch in Zukunft. Auf eine gute Zusammenarbeit!
Bildquelle: JOSHUA COLEMAN, Unsplash