Präparate gegen seltene Erkrankungen gelten als lukrativer Markt. Hersteller profitieren von erleichterten Zulassungsverfahren inklusive fehlender Nutzenbewertung. Und so mausert sich mancher Arzneistoff zum Blockbuster. Kommt es jetzt zur befürchteten „Orphanisierung“?
Orphan Drugs genießen in vielen Ländern einen besonderen Status. Beispielsweise hat die Europäische Union schon vor knapp 15 Jahren eine Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden paraphiert. Gesundheitspolitiker sehen als Voraussetzung, dass im Geltungsbereich weniger als 230.000 Patienten pro Jahr oder weniger als fünf Menschen pro 10.000 Einwohner an einer Erkrankung leiden. Treffen entsprechende Voraussetzungen zu, profitieren Hersteller von vereinfachten und subventionierten Zulassungsverfahren. Gemäß Paragraph 35a Absatz 1 Satz 10 SGB V gilt ein Zusatznutzen bereits durch die Zulassung als belegt. Vergleichstherapien müssen nicht als Benchmarking herangezogen werden: lukrative Rahmenbedingungen für Hersteller.
Zur Problematik: Wie die Europäische Arzneimittelagentur EMA berichtet, werden immer häufiger Präparate gegen seltene Erkrankungen zugelassen. Waren es in 2011 noch vier Medikamente, stieg die Zahl auf acht (2012) und zwölf (2013) an. EMA-Experten meldeten Mitte 2013 einen rapiden Zuwachs der Anträge um durchschnittlich 36 Prozent. Bei kleinen und mittelgroßen Unternehmen stieg der Orphan-Anteil auf 68 Prozent. Gesundheitspolitiker sind in Sorge. Sie vermuten, Firmen würden mehr oder minder willkürlich Indikationsgruppen bilden. Ist ihr Patientenkollektiv nur klein genug, winken Vorzüge durch einfachere Verfahren. Außerdem kommen Firmen in den Genuss eines zehnjährigen Rechts auf exklusiven Vertrieb – ein Schelm, der Schlechtes dabei denkt. Über den „Mythos Orphanisierung“ diskutierten Ärzte, Patienten und Kassenvertreter am 5. November in Berlin. Dr. Andreas Reimann von ACHSE e.V. (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) widerspricht der These. „Das Problem ist vielmehr, dass es zu wenige Arzneimittel gibt.“ Angesichts von 6.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen und zirka 100 zugelassenen Orphan Drugs wird der Bedarf mehr als deutlich. Auch kontrollieren EMA-Experten über ein Committee for Orphan Medicinal Products (COMP) diverse Orphan-Kriterien, einmal vor der Zuerkennung eines Orphan Drug-Status und ein zweites Mal kurz vor der Zulassung. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), sagte vor einigen Monaten zur möglichen Orphanisierung: „Derzeit sehen wir Anzeichen für eine solche Strategie.“ Experten sind noch nicht zu einem Konsens gelangt.
Der nächste Schritt: Ist es Firmen gelungen, neue Präparate zuzulassen, geht es Schlag auf Schlag weiter. Beispielsweise wurde Imatinib (Glivec®) 2001 zur Therapie chronisch-myeloischer Leukämien (CML) zugelassen. Mittlerweile sind weitere sieben Indikationen mit hinzugekommen – nicht ohne Strategie. Seinen einstigen Orphan Drug-Status hat das Zytostatikum längst verloren. Glivec® ist zum Blockbuster geworden und gehört zu den acht umsatzstärksten Präparaten in Deutschland. Schätzungen zufolge haben zehn Prozent aller Pharmaka zur Therapie seltener Erkrankungen diesen Erfolg. Bei Glivec® kamen kleine Patientenkollektive nochmals als Trumpfkarte zum Einsatz: Eigentlich wollten Konkurrenten mit Ablauf des Patentschutzes Generika auf den Markt bringen. Anfang 2013 erweiterte Novartis die Indikationsliste aber erneut. Glivec® wurde von der Europäischen Kommission bei chronisch-myeloischer Leukämie zugelassen, speziell im Falle Philadelphia-Chromosom-positiver Kinder und Erwachsener. Für Novartis bedeutet dies einen neuerlichen Patenschutz bis 2016.
Heilberufler und Kassenvertreter diskutierten beim Forum „Mythos Orphanisierung“ nicht nur zulassungsrechtliche Aspekte. „Wir müssen diese Mittel in die Versorgung bringen mit dem Ziel, Evidenz zu schaffen“, so der DAK-Vorstandsvorsitzende Professor Herbert Rebscher. Und Professor Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, ergänzte: „Wir wissen verdammt wenig über diese Arzneimittel.“ Ludwig weiter: „Patienten mit seltenen Erkrankungen haben die gleichen Ansprüche auf Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit eines Arzneimittels wie andere Patienten.“ Auch seien klinische Studien hinsichtlich ihrer Endpunkte oder Vergleichssubstanzen deutlich schlechter als bei Molekülen zur Therapie großer Patientengruppen. In den USA haben Verantwortliche deshalb begonnen, kritisch über Orphan-Drug-Regularien nachzudenken. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) legt nach. Im kürzlich vorgestellten Report „Bewertung und Auswertung von Studien bei seltenen Erkrankungen“ heißt es: Gelegentlich plädieren Studiensponsoren bei seltenen Erkrankungen für eine Absenkung methodischer Standards für klinische Studien. Randomisierte, kontrollierte Studien gelten wegen geringer Teilnehmerzahlen als schwierig. Zudem fehlen Vergleichstherapien. „Für eine andere Herangehensweise als bei häufigeren Erkrankungen gibt es weder wissenschaftliche Gründe noch spezielle Designs und Methoden, die nicht auch für häufigere Erkrankungen relevant wären“, so ein Resümee. Als Lösungsansatz empfehlen Gutachter überregionale oder internationale Ansätze mit zentralen Krankheitsregistern. So könnte es gelingen, hochwertige Studien mit größeren Patientenzahlen zu realisieren.