Das BPTA-Syndrom ist äußerst selten. Nun gelang es, den Entstehungsmechanismus der Krankheit im Detail aufzuklären. Der gleiche Mechanismus könnte auch ursächlich für andere Erkrankungen sein.
In Zusammenarbeit mit anderen Forschungsinstitutionen haben Forscher der Berliner Charité aufgeklärt, wie das äußerst seltene erbliche BPTA-Syndrom entsteht: Die Ladungsänderung eines Proteins bringt die zelluläre Selbstorganisation durcheinander, eine Entwicklungsstörung ist die Folge. Das Team identifizierte außerdem hunderte vergleichbare genetische Veränderungen, die unter anderem mit Störungen der Hirnentwicklung oder einer Krebs-Veranlagung in Zusammenhang stehen. Ihre Ergebnisse wurden in Nature veröffentlicht.
Tausende genetische Veränderungen stehen in Verbindung mit verschiedenen Erkrankungen. Wie genau diese Mutationen zu Krankheiten führen, ist meistens jedoch unklar. Das liegt daran, dass sie Abschnitte von Proteinen betreffen, deren dreidimensionale Struktur ungeordnet ist und über deren Funktion in der Zelle man bisher wenig weiß. „Die Aufgaben solcher Proteinabschnitte sind schwer zu erforschen, weil sie häufig erst zusammen mit anderen Molekülen ihre Wirkung entfalten“, sagt Dr. Martin Mensah vom Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité. Er ist einer der beiden Erstautoren der Studie. „Am Beispiel des BPTA-Syndroms haben wir nun im Detail beschrieben, wie Veränderungen in ungeordneten Proteinbereichen eine genetisch bedingte Krankheit verursachen können.“ Damit hat das Forschungsteam einen neuen Entstehungsmechanismus von Erbkrankheiten entdeckt – der der Studie zufolge überraschenderweise gar nicht so selten ist.
BPTA steht für: Brachyphalangie-Polydaktylie und tibiale Aplasie/Hypoplasie. Die Betroffenen haben schwerwiegende Fehlbildungen an den Gliedmaßen, dem Gesicht, dem Nerven- und Knochensystem und anderen Organen. Mit weniger als zehn dokumentierten Fällen weltweit ist die Krankheit extrem selten. Um der Ursache für das BPTA-Syndrom auf die Spur zu kommen, entschlüsselten die Forscher die Erbinformation von fünf Betroffenen und stellten fest, dass bei allen das Protein HMGB1 verändert ist: Das letzte Drittel seiner Struktur ist durch eine sogenannte Rasterschub-Mutation nicht länger negativ, sondern positiv geladen.
Durch die Ladungsänderung ähnelt HMGB1 nun Proteinen, die sich vorzugsweise im Kernkörperchen aufhalten. Es ist daher fundamental wichtig für die Lebensfähigkeit einer Zelle.
Wie das Forschungsteam anhand von Versuchen mit isolierten Proteinen und Zellkulturen belegte, wird das mutierte HMGB1-Protein mit seinem nun positiv geladenen Endstück fälschlicherweise zum Kernkörperchen hingezogen. Weil der Proteinfortsatz zum Teil auch zäher geworden ist, verklumpt das HMGB1-Protein außerdem. „Im Mikroskop konnten wir nachvollziehen, dass das Kernkörperchen dadurch seine eigentlich flüssigkeitsähnlichen Eigenschaften verliert und zunehmend erstarrt“, erklärt Dr. Henri Niskanen, ebenfalls Erstautor der Studie.
Die Verfestigung des Kernkörperchens beeinträchtigt die Lebensfunktion der Zellen: Mit dem mutierten Protein starben mehr Zellen in der Kultur als ohne die Mutation. Prof. Malte Spielmann, einer der drei leitenden Autoren der Studie, resümiert: „Wir haben also gezeigt, wie Mutationen in ungeordneten Proteinabschnitten eine Krankheit verursachen können: Durch eine Ladungsänderung sammelt sich das Protein fälschlicherweise im Kernkörperchen an und beeinträchtigt so dessen lebenswichtige Funktion. In der Folge ist die Entwicklung des Organismus gestört.“
Anschließend durchsuchte das Forschungsteam in Datenbanken die DNA-Sequenzen von tausenden Personen auf der Suche nach ähnlichen Fällen. Tatsächlich konnten die Wissenschaftler mehr als 600 Mutationen in 66 Proteinen identifizieren, die dem Protein-Endstück sowohl eine positive Ladung als auch zähere Eigenschaften verliehen. 101 davon waren bereits zuvor mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung gebracht worden, darunter neuronale Entwicklungsstörungen und eine erhöhte Anfälligkeit für Krebs. Für 13 ausgewählte Proteine prüfte das Team in der Zellkultur, ob sie durch die Mutationen eine Affinität für das Kernkörperchen erhielten. Das traf in zwölf Fällen zu. Etwa die Hälfte der getesteten Proteine beeinträchtigten die Funktion des Kernkörperchens und ähnelten damit dem Krankheitsmechanismus des BPTA-Syndroms.
„Der Entstehungsmechanismus, den wir beim BPTA-Syndrom entdeckt haben, könnte also bei vielen weiteren Krankheiten zum Tragen kommen“, sagt Prof. Denise Horn, leitende Studienautorin. „Wir stoßen damit eine Tür auf, die zur Aufklärung zahlreicher weiterer Erkrankungen führen könnte. Die eigentliche Arbeit beginnt deshalb erst jetzt.“
Zumindest für einige Erkrankungen könnte der jetzt bekannte Mechanismus außerdem einen neuen Therapieansatz liefern. „Tumorleiden sind auf genetische Veränderungen in den betroffenen Zellen zurückzuführen“, erklärt Dr. Denes Hnisz, dritter leitender Autor der Studie. „Möglicherweise können wir in Zukunft also die Krebsentwicklung unterbinden, indem wir in die Selbstorganisation der Zelle eingreifen, die über ungeordnete Proteinabschnitte vermittelt wird.“
Dieser Artikel beruht auf einer Pressemitteilung der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Flying Object, unsplash