Viele Long-Covid-Patienten fühlen sich von ihren Hausärzten alleingelassen – man würde alles „auf die Psyche schieben.“ Lasst uns zusammenarbeiten und es besser machen.
Über die Verläufe von COVID-19-Infektionen und insbesondere in letzter Zeit zunehmend über die postakuten Symptome wurde bereits in unterschiedlichen Foren und Medien berichtet. Aufgrund der sich noch entwickelnden Datenlage gibt es bislang wenige Empfehlungen für die psychotherapeutische Behandlung von Menschen, die unter den Langzeitfolgen einer bestandenen COVID-19-Infektion leiden. In diesem Beitrag geht es um psychotherapeutische und neuropsychologische Versorgungsaspekte. Der Beitrag soll auch eine Einladung für den fachlichen Austausch unter Kollegen sein, die im psychiatrisch-psychotherapeutisch-neurologischen Bereich arbeiten und immer wieder mit Patienten, die unter den COVID-19-Langzeitfolgen leiden, konfrontiert sind.
Es liegen bereits einige Arbeiten mit Schwerpunkt Neurologie/Psychiatrie/Psychotherapie bei genesenen COVID-19-Patienten vor, nachzulesen etwa hier, hier und hier. Dabei handelt es sich bei den psychischen Begleiterscheinungen sowohl um primäre als auch sekundäre Konsequenzen einer COVID-19-Infektion. Zum Beispiel werden Menschen nach einer COVID-19-Infektion vorstellig aufgrund einer depressiven Entwicklung infolge von somatischen Langzeitfolgen (z. B. Atembeschwerden, kardiovaskuläre Symptome, eingeschränkte Belastbarkeit, Dysphagie) oder (auch) aufgrund einer primär depressiven Entwicklung ohne erkennbaren Zusammenhang zu somatischen Beschwerden. Auch die psychischen Symptome als Folge von den pandemiebedingten Maßnahmen wurden diskutiert. Dies ist jedoch nicht das, was fachlich unter Post bzw. Long Covid subsumiert wird.
Gemäß den Angaben der S1-Leitlinie Long-/Post-Covid der AWMF wird Long Covid wie folgt definiert: „Beschwerden später als vier Wochen nach der Infektion, die seit der Infektion fortbestehen oder nach dem Ende der akuten Phase auftreten, und als Folge der SARS-CoV-2-Infektion verstanden werden können.“ Dagegen wird Post Covid als „Beschwerden später als zwölf Wochen nach der Infektion, die seit der Infektion fortbestehen oder nach dem Ende der akuten Phase auftreten, und als Folge der SARS-CoV-2-Infektion verstanden werden können“ aufgefasst. Die Leitlinie beinhaltet auch weitere Informationen zu den Verbreitungsformen (schwerpunktmäßig 1. Fatigue, Schwäche und Konzentrationsstörungen, 2. Vegetative Störungen, 3. Körperliche Beschwerden), sowie andere wichtige Versorgungsaspekte und epidemiologische Fakten.
Bei Versorgungsaspekten sollte aber immer differenziert werden, ob es sich um eine Versorgungssituation auf dem Land oder in einer Großstadt handelt. Es gibt zwar einige spezialisierte Post-Covid-Ambulanzen – meist aber in Großstädten und an universitären Einrichtungen. So existierten allein in Berlin 13 Anlaufstellen – fast alle an der Berliner Charité. Auf dem Land sieht es – wie bei anderen medizinischen Versorgungsfragen auch – leider schlechter aus. Bei einigen Ambulanzen betragen die Wartezeiten mehrere Monate.
Leider ist die Situation in psychotherapeutischen Praxen nicht viel anders. Die Versorgung von Betroffenen mit postakuter Covid-Symptomatik erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen, wie etwa der Neurologie, Psychotherapie, Immunologie und Allgemeinmedizin.
Die aktuelle Forschung zeigt, dass bei Covid-assoziierter Fatigue, wie bei auch anderen Fatigue-Formen, z. B. bei einem chronischen Fatigue-Syndrom oder einer myalgischen Enzephalomyelitis (ME/CFS), inflammatorische und neuroimmunologische Pathomechanismen beteiligt sind. Proinflammatorische Zytokine, die im Rahmen von gängigen Infektionen oder bei Autoimmunerkrankungen aktiv sind, können psychiatrische und psychisch-relevante Symptome wie Depressivität oder psychose-ähnliche Episoden hervorrufen. Die Patienten stellen sich mit unterschiedlichen Symptomen vor: Neben den bereits erwähnten Fatigue-Symptomen, kommen Depression und affektive Störungen sehr häufig vor. Auch Suizidalität – im Rahmen von und auch außerhalb einer depressiven Entwicklung – ist ein akuter Vorstellungsgrund.
Aus verhaltenstherapeutischer Sicht ist hier zu unterscheiden zwischen Betroffenen, die unter neurokognitiven Einschränkungen einer Post-Covid-Symptomatik leiden und durch die festgestellten Defizite und andere psychosoziale Begleiterscheinungen suizidal werden und solchen, die keine Einschränkungen berichten, aber trotzdem eine suizidale Krise entwickeln. Man muss also primäre und sekundäre Suizidalität unterscheiden.
Wieder andere Betroffene beschreiben primär körperlich-vegetative Symptome wie Atemnot oder eingeschränkte körperliche Belastbarkeit und daraus resultierende Anpassungsstörungen. Nicht selten zeigen sich posttraumatische Belastungssymptome bei intensivmedizinischen Verläufen. Eine kleine Anzahl von Patienten beschreibt primär kognitive Defizite wie Konzentrationsstörungen, Gedächtniseinbußen und Einschränkungen in exekutiven Funktionen.
Aus klinischer Erfahrung ist das wichtigste in diesem Zusammenhang, Betroffene ernst zu nehmen und eine tiefergehende Anamnese zu erheben. Viele Patienten berichten, man habe sie, beispielsweise beim Hausarzt, nicht ernst genommen oder man habe alles „auf die Psyche“ geschoben. Wie oben erläutert, existieren manifeste Zusammenhänge und Erklärungen zur Neuroinvasion von COVID-19 mit entsprechenden Folgen für das Erleben und Verhalten. Die gesamte Symptomatik als psychosomatisch abzustempeln, ist nicht hilfreich und nicht zielführend. Jemanden ernst zu nehmen bedeutet auch, den Betroffenen diese psychoneuroimmunologischen Zusammenhänge zu erklären – also Psychoedukation zu betreiben– und dadurch die Symptome begreifbar zu machen.
Je nach Ressourcen wäre eine Konsultation eines spezialisierten Zentrums sinnvoll. Auch sollte in einer psychotherapeutischen Praxis über sozialrechtliche Aspekte reflektiert werden, wie etwa die Auswirkung der Erkrankung auf die Erwerbsfähigkeit. Die bisherigen Verläufe zeigen, dass die Symptome zwar lange dauern – bis zu einem Jahr oder noch länger – viele können jedoch schon früher schrittweise Teile ihres alten Lebens wieder zurückerobern. Leider sind dennoch die Langzeiteffekte nicht aussagekräftig genug, um dezidierte Empfehlungen für den Langzeitverlauf zu treffen.
Des Weiteren wird symptomatisch behandelt. Hier soll jedoch darauf geachtet werden, dass eine aktivierungsbasierte Behandlung, wie z. B. bei einer depressiven Episode, bei Covid-assoziierter Fatigue kontraindiziert wäre. Dies könnte zu einer Post-Exertional Malaise (PEM), auch bekannt als Belastungsintoleranz, führen. In dem Zusammenhang sollten die Patienten das Pacing als Behandlungsstrategie von Fatigue kennenlernen. Ähnliche Behandlungsempfehlungen und -pfade sind bereits aus der Psychoonkologie bekannt.
Zur Behandlung der neurokognitiven Einschränkungen bieten sich kognitive Trainings an. Diese sollten individualisiert und an den entsprechenden individuellen Alltag der Patienten angepasst werden. Bei einigen Betroffenen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung verfährt man entsprechend den geltenden Leitlinien für PTBS traumafokussiert oder/und integrativ. Auch Aspekte aus der Akzeptanz-und-Commitment-Therapie (ACT) könnten bei einigen Verläufen hilfreich sein.
Angesichts vieler Kommentare ergänzt der Autor folgenden Nachtrag:
Liebe Kollegen,
als ich diesen Beitrag verfasst habe, war meine Intention, einen fachlichen Austausch zwischen den beteiligten Fachdisziplinen anzuregen und in die Wege zu leiten. Es haben sich viele zu dem Thema geäußert, vor allem auch betroffene Personen – was natürlich sehr erfreulich ist. Nicht erfreulich ist das, was von Betroffenen berichtet wurde und wie darauf – meines Erachtens – reagiert wurde. Ich kann die Betroffenenposition sehr gut nachvollziehen. Nochmal, wie ich bereits bei den Kommentaren angedeutet habe: Es war nicht meine Absicht, zu behaupten, dass Long Covid psychisch sei. Im Gegenteil. Ich werde jetzt nicht wieder Studien zitieren, denn es gibt 100%ig Gegenzitate und -stimmen.
Die Frage bleibt leider unbeantwortet und vielleicht habe ich diese nicht deutlich formuliert oder überhaupt gestellt: Wie kann eine ambulante Versorgung von Betroffenen mit Long Covid, CFS, ME aussehen? Und das, ohne diesen Personen das Gefühl zu vermitteln, „Das ist etwas Psychisches!“? Hier wünsche ich mir eine Beteiligung von Immunologen, Endokrinologen und weiteren organmedizinischen Fachrichtungen.
Wir haben – und das betone ich nochmal – einen Anteil von Patienten, die zusätzlich psychische Erkrankungen haben; komorbid und nicht differenzialdiagnostisch gemeint! Ja, es mag sein, dass sie vor Long Covid erkrankt waren. Das ändert aber nichts an der Behandlungsfrage. Denn wenn ich depressiv und aus immunologischen-internistischen Gründen nicht in der Lage bin, einen störungsspezifischen Aktivitätsaufbau durchzuführen – wenn dies sogar kontraindiziert ist – dann brauche ich andere Interventionen.
Bitte berücksichtigen Sie, dass wir nicht alle Betroffene auf eine Long-Covid-Ambulanz verweisen können. Insbesondere die ambulante Versorgung auf dem Land und in ländlichen Gebieten ist kritisch. Man könnte natürlich sich zurücklehnen und sagen: „Die meisten erholen sich 6 Monate nach Ausbruch der Symptomatik … also warum jetzt der ganze Stress?“ Ich hoffe, Sie vertreten nicht diese Meinung. Denn das wäre nicht nur unprofessionell, sondern auch menschenverachtend.
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