Einen personalisierten Ansatz – den verspricht die Präzisionsmedizin. Doch was bringt sie wirklich? Die spannendsten Entwicklungen im Überblick.
Medizin ist und bleibt im Fluss. Wie stark sich die Möglichkeiten, Patienten zu behandeln, im Laufe der Zeit verändert haben, zeigt sich besonders deutlich bei Krebserkrankungen. Auf Twitter beschreibt Prof. Vincent Rajkumar, Onkologe an der Mayo Clinic in Rochester, Entwicklungen der letzten 70 Jahre von der chemischen Keule bis zur Präzisionsonkologie.
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Bis zum Beginn der 1950er Jahre hatten Onkologen nur die Möglichkeit, Krebspatienten per Chirurgie oder Strahlentherapie zu behandeln. Eine der frühen Chemotherapien war Methotrexat, um solide Tumoren zu behandeln. Kurz zuvor hatten Ärzte auch Mechlorethamin untersucht und begannen, das Molekül als Zytostatikum einzusetzen. Tamoxifen bereicherte das therapeutische Arsenal bei Patientinnen mit Brustkrebs ab 1974. Und 1978/1979 folgte Cisplatin.
Mit Rituximab begann das Zeitalter der therapeutischen Antikörper: ein Schritt hin zu gezielteren Behandlungen. Thalidomid und seine Derivate kamen als immunmodulierende Therapien ab 1998 mit hinzu. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichten personalisierte Behandlungen mit der CAR-T-Zelltherapie, einer Immuntherapie mit patienteneigenen T-Zellen.
Personalisierte Ansätze revolutionieren auch die Diabetologie. Zwei Beispiele: Wissenschaftlern ist es gelungen, anhand von Blutzuckerwerten, Leberfett, der Körperfettverteilung, der Lipidspiegel und des genetischen Risikos sechs Subtypen des Prädiabetes zu identifizieren. Drei davon stehen mit einem niedrigen und drei mit einem erhöhten Risiko für Typ-2-Diabetes und für Folgeerkrankungen in Verbindung.
Auch beim Diabetes selbst ist es Forschern gelungen, anhand des HbA1c-Werts, des Alters bei der Erstdiagnose, des Body-Mass-Index (BMI), des Enzyms Glutamat-Decarboxylase (GAD), der Insulinproduktion und der Insulinwirkung fünf Subtypen zu identifizieren:
Hier gilt trotz der Notwendigkeit, weitere Studien durchzuführen: Die Cluster unterscheiden sich im Komplikationsrisiko und in der optimalen Therapie. Sie sind eine mögliche Grundlage für Präzisionstherapien.
Diabetologie und Onkologie zeigen, auf welchen Säulen die Präzisionsmedizin beruht:
Auch im Arzneimittelbereich wächst die Zahl der individualisierten Therapien. Aktuell nennt der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) 100 zugelassene Wirkstoffe im Bereich der personalisierten Medizin. Für 91 dieser Moleküle ist ein diagnostischer Vortest vorgeschrieben, für weitere neun Wirkstoffe wird ein Test empfohlen.
Doch die Möglichkeiten sind damit längst nicht ausgeschöpft. Bei Biomarkern zur Präzisionstherapie muss es sich keineswegs um Moleküle handeln. Auch Daten gehören mit dazu. Smartphones erfassen eine Vielzahl an Vitalparametern – vom Bewegungsprofil über den Schlafrhythmus bis zur Sprech- und Ausdrucksweise. Und Erkrankte hinterlassen entlang ihrer Patient Journey etliche Daten im Versorgungsbereich. Darin steckt Potenzial, um Erkrankungen zu erkennen, bevor klinische Symptome auftreten. Außerdem helfen digitale Biomarker dabei, das Progressionsrisiko zu erkennen.
Als besonders vielversprechend gelten digitale Patientenakten. In solchen Daten erkennen Tools der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens Muster, die sich ärztlichen Blicken entziehen. Beispielsweise haben Forscher gezeigt, dass KI-Tools Patienten mit Hepatitis-C-Risiko, aber ohne Diagnose, mit deutlich höherer Genauigkeit erkennen als Screening-Empfehlungen klinischer Leitlinien.
Nur haben Studien dieser Art einen zentralen Nachteil. Meist handelt es sich um Assoziationsstudien. Sie zeigen, dass Änderungen eines bestimmten Parameters beispielsweise mit einer rascheren Krankheitsprogression assoziiert sind. Ob wirklich kausale Zusammenhänge bestehen – wie es randomisiert-kontrollierte Studien im Arzneimittelbereich belegen – ist unklar. Auch hier sind Messlatten der evidenzbasierten Medizin anzulegen, bevor Verfahren von der Wissenschaft in die Praxis transportiert werden.
Jenseits der rein wissenschaftlichen Überlegungen stellen sich auch praktische Fragen zur Umsetzung. Ärzte haben einen erheblichen Fort- und Weiterbildungsbedarf, um neue Strategien auch erfolgreich einzusetzen. Krankenhäuser wiederum stehen vor der Herausforderung, ihre Labore und IT-Infrastrukturen anzupassen, um Biomarker zu bestimmen und Daten zu verarbeiten.
Fragen der Finanzierbarkeit sollten Politiker und Spitzenverbände ebenfalls diskutieren. Hier gilt es, zwei gegenläufige Trends im Auge zu behalten. Kurzfristig führen personalisierte Therapien aufgrund der hoch spezialisierten Diagnostik und der abgestimmten Therapie wohl zu steigenden Kosten. Doch weniger schwere, langwierige Folgeerkrankungen – und weniger Ausgaben in diesem Bereich – könnten das Gesundheitssystem mittelfristig entlasten. Es bleibt spannend.
Bildquelle: David Ballew, unsplash