Operationen, die keiner braucht und Bildgebung, die keine Aussagekraft hat: Deutschlands Rücken leiden – unter unnützer Überversorgung. Das sieht die Ärzteschaft selbst auch so. Wie konnte es so weit kommen?
„Ich kann nur noch in Schonhaltung vornübergebeugt laufen, sonst habe ich blitzartig stechende Schmerzen“ – eine Patientenbeschreibung, für die seit ca. 500 Jahren ein Name existiert: der Hexenschuss.
Nun ist man im Jahr 2023 um Jahrhunderte der medizinischen Erkenntnis weiter, hat Bildgebungsverfahren, die das Problem visualisieren und operative Möglichkeiten, die nahezu jede erdenkliche Art von Eingriff erlauben. Ist die Pein also ausgerottet? Mitnichten. Wir können klassifizieren, detaillierte Diagnosen erstellen, passgenaue Therapien verordnen, Schmerzen lindern – doch aus dem Hexenschuss wurde lediglich die Lumbago, Iliosakralgelenks-Überreizung oder die Ischialgie. So bleibt der Rückenschmerz der Deutschen treuester pathologischer Begleiter.
Wen wunderts da, dass Geplagte wie auch Ärzte dem Leiden mit allen Mitteln den Garaus machen wollen? Doch auch dieser hippokratische Eifer erklärt nicht, was in deutschen Krankenhäusern an Bandscheiben aufgefüllt, Nervenkanälen erweitert und Schrauben, Stangen und Wirbelersätzen in Patienten-Rücken eingebaut wird.
Ja, es ist Fakt, dass rund 85 % der Deutschen im Leben an Rückenschmerzen leiden. 35 % plagt der Rücken gar monatlich – 15,5 % sind bereits im chronischen Schmerz angelangt. Und auch ja: Sozioökonomische Lebensumstände, wie zunehmend sitzende Tätigkeiten, Homeoffice und der demografische Wandel, werden diese Rate in naher Zukunft eher nicht absinken lassen. Und doch ist der Boom an Rückenoperationen und Bildgebungen kaum zu erklären: „Die Demografie gibt es nicht her, dass die Zahl der Rückenoperationen dermaßen zunimmt – der Anstieg ist eindeutig überproportional. Insbesondere die Anzahl der gewinnträchtigen Eingriffe ist dabei stark angestiegen – darunter vor allem Laminektomien, also größere operative Eingriffe. Dekompressionsprozeduren haben darunter beispielsweise einen Anstieg um mehr als das Anderthalbfache“, sagt Dr. Thorsten Luecke, Chefarzt und Chirurg am Verbundkrankenhaus Linz-Remagen.
Was Luecke aus Jahren der Berufspraxis und mit Blick auf die Entwicklung in Deutschland wiedergibt, untermauern die Statistiken in der Branche. „Die Zahl der Krankenhausaufenthalte aufgrund aller Erkrankungen der Wirbelsäule und des Rückens (ICD-Gruppe M40-54) hat sich von 2007 bis 2015 um 154.000 auf 611.000 Fälle pro Jahr erhöht. Das entspricht einem Zuwachs von 34 Prozent. Zum Vergleich: Die Zahl aller stationären Behandlungen ist im gleichen Zeitraum nur um 12 Prozent gewachsen“, heißt es im Bericht der Bertelsmann Stiftung, die die Entwicklung vor der Corona-Pandemie zusammengefasst hat.
Zwar sind im Rahmen der Pandemie und durch das Zurückstellen vermeidbarer Operationen die Zahlen wieder leicht gesunken – setzen aber ihren zuvor eingeschlagenen Weg schon jetzt wieder fort.
Doch die fragwürdige Behandlung beginnt nicht erst beim Eingriff der Chirurgen bzw. muss auch gar nicht so weit gehen, um als Übertherapie klassifiziert zu werden – bereits die Bildgebung, wie sie in Deutschland praktiziert wird, sucht europaweit ihresgleichen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stellte für 2017 fest, dass auf 1.000 Einwohner Deutschlands 143 MRT-Untersuchungen kommen, in Finnland waren es hingegen 43. Doch nicht nur das berühmte MRT – auch Röntgen und Computertomografie sind voll im Trend. So werden aktuell jährlich mehr als sechs Millionen Aufnahmen der Wirbelsäule gemacht.
Dass es das nicht braucht und dass Abnutzungserscheinungen der Wirbelsäule bereits bei Personen um die Mitte 20 erkennbar sind, sollten Orthopäden wie Radiologen wissen – eine operative Konsequenz der nahezu immer erkennbaren Veränderungen sollte in den meisten Fällen ausgeschlossen werden. Wie dies zu bewerkstelligen sei, erklärt Dr. Arne-Björn Jäger, Orthopäde am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Trier: „Man müsste [in einem zweiten Schritt] eine professionelle Aufklärung gewährleisten. Heißt: Den Patienten mit den radiologischen Befunden nicht alleinlassen. Und wenn er sieht, dass dort nach dem MRT beispielsweise ein Bandscheibenvorfall zu erkennen ist, aber keine Wurzelsymptomatik vorliegt, letztlich auch nicht zwangsläufig eine OP nötig ist. Diese Informationen und das Zeitnehmen für den Patienten sind immens wichtig.“
Gleichzeitig geben weder die Leitlinien eine Bildgebung für unspezifische Rückenschmerzen vor, noch raten Profis aus der Neuroradiologie dazu. Im Gegenteil: „Kostenintensive, bildgebende Verfahren müssen nicht routinemäßig zum Einsatz kommen, sondern nur bei Patienten mit schweren Symptomen wie Lähmungserscheinungen oder besonderem Risikoprofil. […] Erst wenn die Beschwerden länger als sechs Wochen andauern und sich als therapieresistent erweisen, muss eine Bildgebung erfolgen“, so die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie.
Die Ursache(n) für den Durchleuchtungswahn dürften ebenso vielschichtig sein wie Personengruppen, die an den Behandlungen beteiligt sind – vom Chirurgen, Radiologen, Orthopäden, Hausarzt bis letztlich zum Patienten selbst tut jeder sein Bisschen, um der vermeintlichen Sicherheit willen alle technischen Hilfsmittel auszunutzen und das Bestmögliche rauszuholen.
„Das Problem der Durchführung von Bildgebungen in Deutschland ist mitunter, dass die Seite der Hausärzte sich gern rückversichert, wenn die Diagnostik nicht eindeutig ist. Die rechtlichen Bedenken sind derzeit besonders groß, sinkt die Klageschwelle gegen Ärzte in den vergangenen Jahren doch zusehends. Auch muss man sagen, existiert eine Art Rentenbegehren. Sprich: Patienten, die beispielsweise schwere körperliche Tätigkeiten im Berufsleben ausgeführt haben, möchten sich frühzeitig attestieren lassen, dass die Diagnose Arbeitsunfähigkeit lautet“, beschreibt Jäger.
Dass dieser Glaube an die Bildgebung als Heilmittel per se tatsächlich existiert und Auswirkungen auf die Behandlungsergebnisse erzielt, hat unlängst eine Studie bestätigt. Dass der Patient jedoch letzten Endes keine ärztliche Entscheidungsgewalt überstimmen kann, ist evident – wieso also das OK von ärztlicher Seite?
„Die Medizin ist in Deutschland so gestaltet, dass wir eine Werkstatt- bzw. Auftragsmedizin haben. Das Bild des Patienten ist ‚Ich gehe in die Werkstatt, werde repariert und gehe wieder‘. Fakt ist aber, dass der Patient seine ‚Hardware‘ selbst auf Vordermann halten sollte. Das wurde uns in diesem System aber regelrecht abtrainiert, weil es für alle Seiten einfacher und lukrativer ist. Für den Patienten, weil er keine Verantwortung mehr für sich tragen muss in dem Rahmen der Beschwerden und für den Anbieter, weil es schneller geht und besser abgebildet ist. Wenn man eine Psychotherapiesitzung zum Vergleich nimmt, die gut ein Drittel der Patienten auch benötigen würden – das würde mehr Aufwand und Zeit für den Patienten bedeuten und gleichzeitig hätten Sie einen Stundensatz von circa 60 Euro, je nach Rahmenbedingungen gegenüber dem Eingriff im OP – der mit dem Mehrfachen verbucht wird“, ergänzt Luecke und verweist auf mögliche Fehlanreize.
Ein Blick auf die Finanzen sowie die Marktentwicklung verstärkt diesen Eindruck. So ist die Zahl der niedergelassenen Radiologen stetig gestiegen, das Angebot an neuroradiologischen Leistungen vor allem in Ballungsgebieten nahezu explodiert – denn die Nachfrage gibt es. Radiologen sind mit Abstand die Spitzenverdiener unter den Fachärzten. Einen Reinertrag von 850.000 Euro pro Jahr und Praxis belegt das.
Man muss sich wenig vormachen: Finanzen sind immer Anreizpunkte. So spülen OPs und aufwendige Bildgebung Geld in klamme Kassen, sichern gefährdeten Krankenhäusern die dringend benötigten Quoten. Sicher – technische Anschaffungen, der Aufwand, Vor- und Nachbesprechungen haben ihren berechtigten Preis. Es müsste folglich ein Weg gefunden werden, wie die eklatanten Kostenunterschieden abgeschafft werden können. Kurzum: Die bestmögliche medizinische Lösung ist derzeit nicht mit dem entsprechenden finanziellen Ausgleich versehen. Ohne die Leidensgeschichte des DRG-Systems auszurollen, sei hier dennoch auf das mittlerweile verquere Finanzierungssystem hingewiesen, dessen sich die Politik aber bereits annehmen möchte (wir berichteten).
So bringt eine Bandscheibenoperation im Krankenhaus über die Abrechnung der Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) zwischen 3.000 und 9.000 Euro – ärztliches Honorar und Fallpauschale für das Krankenhaus inbegriffen. Auf der anderen Seite stehen die problemorientierten Sprechstunden mit rund 80 Euro die Stunde, die in vielen Fällen bereits ausreichend sind.
Von welchen Dimensionen der Ungleichheit wir hier sprechen, bringt auch Luecke auf den Punkt: „Versteifungsoperationen haben einen Zuwachs von über 60 %. Das ist nicht nur ein dramatischer Anstieg an OPs selbst – auch laufen die Patienten Gefahr, hiernach langstreckig versehrt zu sein. Und hier gibt es eine eindeutige Korrelation zu den DRGs – das ist eine 3-Punkte-DRG, die, selbst wenn sie ohne verkomplizierende Faktoren abgerechnet wird, einen aktuellen Basisfallwert von über 13.000 Euro hat. Das ist ein Fehlanreiz. Die eigentlich leitliniengerechte multimodale Therapie, die für 80 % dieser Fälle greifen würde, wird hingegen mit einem Punkt abgerechnet. Das heißt, Sie verdienen – bei einer Therapielänge von mindestens 10 Tagen mit 21 Therapie-Einheiten – ca. 4.000 Euro. Damit haben Sie eine klare Ansage, wo die Reise hingeht.“
Verständlich, dass diese Zahlen Begehrlichkeiten wecken – und den einen oder anderen Arzt schwach werden lassen. In einer Umfrage unter Ärzten gegenüber Psychologe Uwe Hambrock gaben Kollegen offen zu: „Besonders Rücken-OPs werden gut bezahlt. […] Da fällt es schwer, anständig zu bleiben.“ Ein anderer Kollege dazu: „Viele meiner Kollegen (Orthopädie) fassen die Leute gar nicht mehr an, sondern verkaufen sofort eine Spritze oder unnötige Ultraschalldiagnostik.“
Zeit also, dem Mammon das Handwerk zu legen – doch leichter gesagt als getan. Einen ersten Ansatz zur Besserung mag die Eigenart des Rückenschmerzes bereits in sich tragen: Er ist immer ein interdisziplinäres Problem, die Empfehlung zur multimodalen Therapie ein richtiger und wichtiger Punkt in den Leitlinien. Nimmt man sich der Fälle in einem fächerübergreifenden Team an, sei die Gefahr einer Übertherapie weitaus geringer als in einem rein operativ arbeitenden Haus. Daneben sollten Patienten die Möglichkeit der kassenärztlichen Leistung zur Einholung einer Zweitmeinung nutzen. Im besten Fall raten Ärzte hier bereits zu einem nicht involvierten Kollegen und/oder Psychotherapeuten.
Im Allgemeinen müssten sich Orthopäden und Hausärzte wieder mehr auf das Handwerk konzentrieren – die Patienten anfassen, die Probleme ertasten, das Gespräch suchen, führen und aufklären. „Die gründliche körperliche Untersuchung und das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient müssen wieder mehr Gewicht erhalten", fordert Dr. Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.
Einen Weg der Selbstregulation gibt es derweil auch. Die Initiative Choosing Wisely startete erfolgreich in den USA und erhält auch in Deutschland Zulauf. Ziel ist es, Ärzten wie Patienten die Nachteile der Überversorgung in verschiedenen medizinischen Fachbereichen – allen voran im Rahmen der Rückengesundheit – klarzumachen und dabei entsprechende Anreize zu setzen. „Ärzte kann man viel eher durch praktische, persönliche Vorteile überzeugen. Im Rahmen von Choosing Wisely, der Ärzteinitiative gegen Überversorgung, könnten zum Beispiel Maßnahmen entwickelt und kommuniziert werden, wie man die (teils überhöhten) Patientenerwartungen zeitsparender und effizienter managen kann“, heißt es im Ergebnis der Studie zur Überversorgung.
Ob die Vorschläge und Umsetzung auf ärztlicher Seite, gepaart mit politischem Umgestaltungswillen durch DRG-Überarbeitung ausreichen, um die alten Hexenkräfte gänzlich zu besiegen, steht derweil in den Sternen. Einen vermeintlichen Lichtblick bietet Luecke dann aber doch noch und fasst damit den aktuellen Stand zusammen: „In vielen Bereichen wird Übertherapie praktiziert. Einen weiteren Anstieg gibt das System aber nicht her. Wir sind bereits an einem Punkt, an dem die normative Kraft des Faktischen die Grenzen setzt und einen Anstieg wie bisher nicht mehr zulässt. Wir haben also meines Erachtens den Zenit überschritten.“
Bildquelle: Taka Sithole, unsplash