Die Inflation erreicht Rekorde – und auch die GKV-Ausgaben für Arzneimittel steigen. Aber nicht überall, nur in ein paar Segmenten herrscht Turboinflation.
Das neue iPhone? Kostet so viel wie ein Gebrauchtwagen. Der Döner in Berlin? Rund doppelt so teuer wie noch vor einem Jahr. Deutschlandweit soll die Inflationsrate im Jahr 2022 der noch vorläufigen Schätzung des Statistischen Bundesamts zufolge 7,9 % betragen haben. Gilt das auch für Arzneimittel bzw. für die der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) entstandenen Arzneimittelkosten?
Die Antwort ist ein klares Jein. Die jährliche Schätzung des Deutschen Apothekerverbands (DAV), die jetzt vorliegt, geht für 2022 von einem Anstieg der GKV-Arzneimittelkosten um 5,2 % aus. Wäre das so, dann hätten die Krankenkassen insgesamt 47,4 Milliarden Euro inklusive Mehrwertsteuer an Big Pharma überwiesen, und die Arzneimittel hätten eine dezent bremsende Wirkung auf die allgemeine Kostenentwicklung gehabt.
Was genauer hinter den Kostensteigerungen im Jahr 2022 steckt, erfordert Detailauswertungen, die noch nicht vorliegen. Vorgelegt hat jetzt das Berliner IGES-Institut die PDF-Fassung seines Arzneimittel-Atlas 2022. Der bezieht sich traditionell auf das Vorjahr, in diesem Fall also 2021. Das ist zwar noch nicht das „Inflationsjahr“, aber der Atlas gibt trotzdem interessante Hinweise darüber, wo es aktuell im Arzneimittelkosmos in Sachen Kosten besonders brennt – und wo nicht.
Erkennbar ist zum einen, dass die GKV-Arzneimittelkosten 2021 (deutlich) stärker zugenommen haben als die damalige, allgemeine Inflationsrate; es ging in diesem Jahr um 7,7 % oder rund 3,3 Milliarden Euro nach oben. Insgesamt gab die GKV im Jahr 2021 demnach rund 46 Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Das ist der so genannte Netto-Wert, Brutto wären es rund 57 Milliarden gewesen, wären die Preise nicht durch Herstellerrabatte (7 Milliarden Euro), Patientenzuzahlungen (2 Milliarden Euro) und Apothekenabschläge (1 Milliarde Euro) politisch gedrückt worden.
Dass es 2021 mit den Arzneimittelkosten so ordentlich nach oben ging, ist dem IGES Institut zufolge auf einige Sondereffekte zurückzuführen. So gingen die Ausgaben für blutstillende Medikamente allein um 76 % nach oben, von rund 600 Millionen auf über eine Milliarde Euro. Dabei handelte es sich aber nicht um eine reale Preis- oder Verbrauchssteigerung: Vielmehr wurde die statistische Erfassung von Hämophilie-Produkten verändert. Sie erscheinen 2021 erstmals in den „normalen“ Ausgabenstatistiken. Weitere 325 Millionen Euro, die keine reale Preis- oder Umsatzsteigerung darstellen, kamen dadurch zustande, dass die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel im Jahr 2021 nach der Absenkung im zweiten Halbjahr 2020 wieder angehoben wurde. Gleichzeitig gab es auf Generikaseite im Jahr 2021 insgesamt 243 Millionen Euro weniger Ausgaben als 2020, was auf den zunehmenden Einsatz von Biosimilars aber auch auf generische Lipidsenker zurückging.
Bleiben noch rund 2,8 Milliarden Euro Kostenzuwächse, die erklärungsbedürftig sind. Und sie lassen sich erklären. Krass hyperinflationär verhielt sich 2021 die Indikationsgruppe „Andere Mittel für den Respirationstrakt“. Hier ging es bei der auf Apothekenverkaufspreisen basierenden Umsatzberechnung, ausgehend von einem allerdings niedrigen Niveau von 377 Millionen Euro, um 112 % nach oben. Der Grund? Im Wesentlichen neue Wirkstoffe zur Behandlung der Mukoviszidose, darunter die Dreifachkombination Ivacaftor/Tezacaftor/Elexacaftor. Einen ähnlich kometenhaften Aufstieg gab es auch bei den „Anderen Mittel für das Nervensystem“, mit einem Umsatz-Plus von rund 60 % von 334 auf 536 Millionen Euro. Dahinter stecken laut IGES unter anderem die Anti-CD-20-Antikörper und andere Medikamente, die bei Multipler Sklerose verschrieben werden.
Bei den Indikationsgruppen, die schon 2020 mehr als eine Milliarde Euro schwer waren, fallen die antineoplastischen Mittel und die ebenfalls überwiegend in der Tumortherapie angesiedelten, endokrinen Therapien ins Auge. Bei den antineoplastischen Mitteln ging es mit dem in Tagesdosen (DDD) gemessenen Verbrauch um 5,9 % und mit den GKV-Kosten um 11 % nach oben. Die antineoplastischen Medikamente machen einen Anteil von immerhin 15,2 % der GKV-Gesamtkosten für Arzneimittel aus.
Allein eine Milliarde der insgesamt 8,28 Milliarden Euro für antineoplastische Wirkstoffe ging 2021 auf das Konto von Pembrolizumab. Mit deutlichem Anstand folgten Bevacizumab, Nivolumab, Ibrutinib und Daratumumab, wo sich die GKV-Ausgaben jeweils zwischen 400 und 500 Millionen Euro bewegten. Die endokrinen Brust- und Prostatakrebsmedikamente schlagen mit 2,6 % der Gesamtarzneimittelkosten der GKV zu Buche. Hier gingen die Kosten um satte 14,6 % nach oben, der Verbrauch nur um 1,5 %. Kostentreiber waren hier vor allem zunehmende Verordnungen der Androgene Receptor Pathway Inhibitoren (ARPI, z.B. Enzalutamid, Apalutamid) sowie das oft damit kombinierte Leuprorelin.
Kommen wir zu vier anderen, großen Indikationen. In die Top Ten der Indikationsgruppen mit den größten absoluten Umsatzänderungen von 2020 auf 2021 schaffen es Diabetes-Medikamente und die Antithrombotika. Antidiabetika machen, gemessen an den DDD, 5,3 % des Gesamtverbrauchs aus. Beim Verbrauch ging es nur sanft um relativ 3,4 % nach oben, während die Preise deftiger um 12,8 % stiegen. Dieser Entwicklung liegen Therapieinnovationen zugrunde. Darunter die SGLT2-Hemmer („Gliflozine“) und die GLP-1-Rezeptoragonisten („Glutide“).
Bei den Antithrombotika bietet sich ein ähnliches Bild. Sie machen 4,2 % des Gesamtverbrauchs und 5,7 % der Gesamtkosten aus. Auch hier ist die Zuwachsrate bei den Kosten mit 4,8 % wesentlich höher als jene beim Verbrauch (0,04 %). Das geht weiterhin im Wesentlichen auf die DOAKs zurück: Die IGES-Analysten weisen darauf hin, dass die DOAKs weiterhin beim Verbrauch um rund 4 % pro Jahr zulegen. Sie machen jetzt 40 % des Gesamtverbrauchs in dieser Indikationsgruppe aus. Dass sich die DOAK-Zunahme nicht im Gesamtverbrauch der Antithrombotika niederschlägt, liegt daran, dass die ASS-Verordnungen 2021 wieder auf das Vor-Corona-Niveau zurückgingen.
Wenig passiert ist preistechnisch bei den Antihypertensiva. Sie machten 36,7 % des Gesamtverbrauchs aus, mit anderen Worten: Jede dritte in Deutschland zulasten der GKV verordnete Tagesdosis war 2021 ein Antihypertensivum. Dafür sind sie mit einem Kostenanteil von lediglich 6,2 % echte Schnäppchen.
Nicht überraschend, aber dennoch eindrucksvoll ist die Verbrauchszunahme um 8,5 % bei den Immunsuppressiva. Die Kosten bewegen sich nahezu im Gleichschritt, eine Zunahme um 9,1 %. Immerhin jeder siebte GKV-Euro im Arzneimittelbereich geht mittlerweile in diese Substanzklasse, die sich damit mit den antineoplastischen Medikamenten ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert.
Ein Blick in die Details: Um knapp 10 Millionen DDD oder 11,5 % ging es für die Immunsuppressiva bei Rheumatoider Arthritis (RA) nach oben. Zu steigenden Kosten führt bei der RA außerdem die Zunahme der Verordnungen von JAK-Inhibitoren. Noch dynamischer entwickelt sich mit einem Verbrauchsplus von 24 % oder 7,7 Millionen DDD die Psoriasis-Immunsuppression. Das spiegelt rund zwanzig neu zugelassene Wirkstoffe in den Jahren 2017 bis 2021 wider. Die Ausgaben-Top-Ten in diesem Segment führten Adalimumab, das (mittlerweile generische) Lenalidomid (in der Indikation Multiples Myelom), Ustekinumab, Infliximab und Etanercept an. Die Verbrauchhitliste wurde angeführt von Methotrexat, gefolgt von Adalimumab, Ustekinumab, Azathioprin und Infliximab.
Bildquelle: Luca Bravo, unsplash