Es sind Geschichten, die das Leben schreibt: Gerade stecke ich noch im Selbststudium zum Thema Nervensystem, da kommt es zum Ernstfall in den eigenen vier Wänden.
Plötzlich ruft mein Sohn panisch: „Mama!!! Code Rot!!!“ Eigentlich war er gerade im Garten und hat mit meiner Mutter eine Schneeballschlacht veranstaltet. Ich lasse alles stehen und hetze runter. Er informiert mich: „Oma hat gesagt sie wird ohnmächtig, dann hat sie sich erst hingesetzt, dann hingelegt, und dann hat sie ein komisches Geräusch gemacht, die Augen verdreht und ist ganz steif geworden. Und dann hat sie gezappelt. Ich habe Opa geholt, der hat sie reingeholt. Und ich habe Papa gesagt, dass er den Rettungswagen anrufen soll.“
Ein Grand mal Anfall, auch tonisch-klonischer Anfall oder Epilepitscher Anfall genannt. Genau das, was ich vor etwa einer Stunde gerade im Kurs wiederholt habe.
Ich renne rüber und sehe meinen Vater, der mit meiner Mutter komplett überfordert ist. Er hält sie halb aufrecht auf den Beinen, kann sie aber nicht weiter ins Wohnzimmer zerren. Ich übernehme sie, setze mich auf den Boden und halte ihren Oberkörper. Sie kann sich kaum artikulieren und schläft immer wieder ein. Rettungsdienst ist unterwegs, sie ist stabil, ich versuche durchzuatmen.
Zuerst ziehe ich ihr den Schal aus, frage, ob sie die Jacke ausziehen möchte. Sie nickt. Inzwischen wird mein Vater nervös und möchte etwas tun. Ich bitte ihn, in die Küche zu gehen um Mamas Tasche zu holen. Dort vermute ich die Versichertenkarte. Er bringt einen Stuhl. Wie ich seit etwa 10 Minuten weiß, nennt sich das Agnosie. Er weiß mit dem Wort „Tasche“ nichts mehr anzufangen. Als mein Sohn mich aus der Vorlesung geholt hat, waren wir beim Thema Alzheimer.
Als der Rettungsdienst kommt, ist das Erste was ich ihnen sage, dass es sich um einen Grand mal Anfall handelt, und dass außer mir gerade alle Corona haben. Nachdem mein Sohn befragt wurde, wie lange die Oma „gezappelt“ hat (etwa 30 Sekunden) trifft der Notarzt ein. Meine Mutter wird untersucht, der Arzt spekuliert, woran der Anfall liegen kann. Ich werfe nochmal ein, dass alle im Haushalt Corona haben.
Der Notarzt ist sauer: „Und das sagen sie mir jetzt erst? Was ist mit Masken?“ Ich bin jetzt auch sauer: „Ich trage eine Maske und mein Sohn auch. Sie können ja wohl nicht verlangen, dass ich meiner Mutter eine Maske aufsetze! Außerdem habe ich das ihren Kollegen direkt gesagt, als sie hier angekommen sind.“ Der Notarzt schaut die Rettungsdienstler an: „Stimmt das?“ Beide schauen erst mich an, dann den Notarzt, dann den Boden und murmeln etwas von „Das habe ich gar nicht mitbekommen, das hab ich nicht gehört.“ Später sagt mir sogar meine Mutter, dass sie mitbekommen hat, dass ich es gleich erzählt habe.
Als es meiner Mutter besser geht, die Blutzuckerwerte und die Temperatur nichts Ungewöhnliches ergeben haben, will sie nicht mit ins Krankenhaus und unterschreibt, dass sie über die Risiken aufgeklärt wurde. Inzwischen suchen die Rettungsdienstler alles zusammen, was sie ausgepackt hatten und bringen es zum Auto. Das Thermometer fehlt.
Wir suchen zusammen. Es taucht nicht auf. Vom Rettungsdienst wird mein Vater verdächtigt. Ich verteidige ihn, da er zum verstecken von Gegenständen weder Zeit noch Nerven hatte. Sie gehen wieder zum Auto zurück, und ich fühle mich trotzdem irgendwie schuldig. Einer kommt wieder rein und sucht weiter. Ich soll in den Schränken schauen. Wir gehen alle Zimmer ab, die mein Vater betreten hat. Plötzlich ruft es aus dem Wagen: das Thermometer war doch schon eingepackt. Ohne Entschuldigung für die Umstände geht der Rettungsdienstler aus dem Haus.
So wirklich gut in Erinnerung behalte ich den Einsatz nicht. Zwei wollen sich nicht daran erinnern, dass ich sie wegen Corona gewarnt habe, einer fragt mich gefühlt alle 10 Sekunden nach der Gesundheitskarte, obwohl ich gerade mit dem Notarzt rede und wissen will, was meiner Mutter fehlt, einer herrscht mich an, und dann wird ein Thermometer verschlampt und mein Vater beschuldigt, ohne dass man wenigstens ein Wort des Bedauerns darüber verliert.
Klar, sind wir in diesen Tagen alle etwas am Limit, ich kann das verstehen. Aber vielleicht sollten sich die Menschen vom Rettungsdienst zwischendurch wieder bewusst machen, dass sie in eine Ausnahmesituation geraten, die die Menschen, die sie gerufen haben, nicht jeden Tag erleben. Ich hoffe, dass dieser seltsame Umgang mit uns auch eher die Ausnahme war.
Dieser Beitrag wurde auch auf dem Blog apothekentheater veröffentlicht.
Bildquelle: JOSHUA COLEMAN, Unsplash