Wenn das Gericht Straftätern eine Therapie anordnet, bin ich als Psychotherapeut skeptisch. Nicht für jeden ist das der richtige Weg. Denn wie soll ich jemanden therapieren, der gar nicht krank ist?
Ambulante psychotherapeutische Versorgungsengpässe sind in aller Munde. Bei der Debatte geht es in der Regel um die sogenannte Richtlinienpsychotherapie, also die sozialrechtlich akzeptierte, formale Darstellung von Psychotherapie im ambulanten Setting, deren Kosten von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen getragen wird. Hier ist die Nachfrage nach einem geeigneten Behandlungsplatz sehr hoch. Es geht zunächst um die administrative Prävalenz, die durch Praxen mitgeteilt wird.
Auf die Frage, welche Patienten tatsächlich von dieser sehr gefragten Behandlungsform profitieren, findet man nicht so leicht eine Antwort. Auch wie hoch die Erfolgsquote in unterschiedlichen Indikationen – von Störungen durch psychotrope Substanzen bis Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend – ist, bleibt unklar.
Es geht hier nicht darum, ob Psychotherapie wirkt. Sondern es geht um den Versuch, die Richtlinie bei einer besonderen Gruppe von Patienten anzuwenden: solche, die in Therapie geschickt werden.
Sie kennen bestimmt diese Konstellation: Sie bekommen eine Anfrage von z. B. der Jugendgerichtshilfe, oder von einer betroffenen Person, die strafrechtlich in Erscheinung getreten ist – vielleicht auch nicht zum ersten Mal. Die Zugangswege sind sehr unterschiedlich, manchmal fragen auch direkt Sozialarbeiter, ob man einen Therapieplatz für Person X frei hätte. Begründung bzw. Anlass: „Das hat der Richter empfohlen, steht so im Beschluss!“ Meine Antwort könnte dann z. B. lauten: „Ja und?! Was sind die Beschwerden, die Symptome und will die betroffene Person das überhaupt?“
Naja, da kommen wir der Sache näher. Die betroffene Person, sagen wir mal ein Familienvater, 36 Jahre alt, mehrfach wegen häuslicher Gewalt strafrechtlich auffällig gewesen, habe seinen 6-monatigen Sohn massiv geschlagen. Er habe dies bereut und sei für eine Therapie bereit. Dies sei auch die Voraussetzung für die Beibehaltung bzw. Rückgabe des Sorgerechts. Ich hoffe, Sie erkennen, worum es geht: eine Empfehlung oder sogar der Versuch einer Erzwingung von Therapie, um die Wahrscheinlichkeit eines Gefährdungsmomentes zukünftig zu reduzieren. Vielleicht auch, um eine Haftstrafe zu umgehen. Nur lässt sich diese Zielsetzung als solche in der Psychotherapie-Richtlinie nicht finden (s. u.). Behandlung zur Gefährdungsreduktion ist eigentlich Ziel der forensischen Psychotherapie und Psychiatrie. Dies wird in spezialisierten forensischen Ambulanzen angeboten. Leider – und es mag auch nur mein subjektiver Eindruck sein – wird versucht, dies auch in allgemein-psychotherapeutischen Praxen durchzukriegen.
Welche Fälle gibt es noch? Psychotherapie mit gerichtlicher Empfehlung findet in wiederkehrenden Konstellationen statt:
1) Im Suchtbereich, wenn es sich um drogenassoziierte Delikte – i. d. R. von Heranwachsenden oder Jugendlichen – handelt1.
2) Im Verkehrsbereich, wenn es um deviantes Verhalten geht.
3) Bei gewaltassoziierten innerfamiliären Konfliktsituationen zum Nachteil von Kindern (dabei sind sowohl Väter als auch Mütter betroffen) oder in Sorgerechtsverfahren bei Einschränkungen in der Erziehungsfähigkeit. Auch, wenn es von einigen Amtsgerichten empfohlen wird – mal mehr, mal weniger mit Druck –, wurde dies bereits von einigen Oberlandesgerichten angefochten (z. B. OLG Brandenburg: Keine gesetzliche Grundlage für eine Auflage zur Durchführung einer Psychotherapie, Beschluss vom 15. Dezember 2017 – 10 UF 21/16).
Es sind unterschiedliche Aspekte, die die Annahme einer solchen Therapie erschweren. Abgesehen von der deutlichen Fremdmotivation für die Aufnahme einer Psychotherapie und der fraglichen intrinsischen Motivation der betroffenen Person, ist für mich fraglich, ob Psychotherapie sozusagen unter Zwang mit berufsethischen Prinzipien vereinbar ist. Zusätzlich stellt sich auch die Frage, was genau behandelt werden soll. Denn wie in der Psychotherapie-Richtlinie aufgeführt (§1, Abs. 5)2, ist eine Psychotherapie nur eine Leistung der GKV, wenn sie der Behandlung einer Krankheit bzw. seelischen Störung dient. Dies sollte sich auch objektivieren lassen durch Mitteilung einer Diagnose gemäß den gängigen Klassifikationssystemen.
Wenn wir also keine Störung feststellen können, die dem strafbaren Verhalten zugrunde liegt, können wir keine Psychotherapie gemäß Richtlinie anbieten. Es gibt auch einfach böse Menschen, die nicht psychisch krank sind! Abgesehen davon, dass es hier um eine andere Zielsetzung als Linderung, Heilung oder Besserung von psychischen krankhaften Zuständen geht. Wie oben erläutert, geht es bei solchen Fallkonstellationen um eine Gefährdungsreduktion bzw. Reduktion der Wiederholungswahrscheinlichkeit – eigentlich eine forensische Aufgabe, die auch andere berufliche und fachliche Qualifikationen erfordert und die unter bestimmten sozialrechtlichen Bedingungen stattfindet.
Denn, wie geht man hier mit der Schweigepflicht um? Wer darf z. B. von der fehlenden Mitwirkungsbereitschaft der betroffenen Person erfahren (PT-RL §27, Abs.3)3? Wer erfährt von den nicht wahrgenommenen Sitzungen? Geht alles direkt an die Bewährungshilfe? Was ist mit anderen Inhalten der Psychotherapie – wie kann sich die betroffene Person öffnen? Und wie kann ein therapeutischer Prozess in Gang gesetzt werden?
Gleichzeitig ist eine Weigerung, eine solche Anfrage anzunehmen, auch kritisch zu betrachten. Denn: Wer soll hier weiterhelfen? Behandlungen in forensischen Ambulanzen dürfen nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen. Man kann nicht einfach auf eine forensische Ambulanz verweisen. Auch im Interesse des sozialen Umfeldes der Betroffenen – und auch wenn es sich nicht um die Behandlung einer codierbaren psychischen Störung handelt – ist eine Besserung der Gesamtsituation durchaus zu erwarten (z. B. im Sinne einer Besserung der Emotionsregulation, Verbesserung der Frustrationstoleranz und der sozialen Kompetenz). Dies sind alles Kompetenzen, die in einem psychotherapeutischen Rahmen vermittelt werden – aber nicht nur dort.
In vielen Fällen wäre auch ein individualisiertes Antiaggressionstraining sinnvoll (bei deviantem Verkehrsverhalten oder auch bei gewaltgeneigten Eltern). Im Verkehrsbereich könnte man verkehrspsychologische Basisfertigkeiten empfehlen. Oder Elterntrainings mit Schwerpunkt für besonders dysfunktionales Problemverhalten. Man bräuchte mehr Angebote, andere Anlaufstellen, wo auch psychotherapeutische Kompetenzen vermittelt werden.
Dies würde die Praxen zusätzlich entlasten und mehr Möglichkeiten zur Reduktion von Gefährdungskonstellationen eröffnen. Leider sind solche Angebote nicht verbreitet – insbesondere in ländlichen Gebieten nicht. Eine Psychotherapie stattdessen wäre jedoch keine ernsthafte Lösung.
Zusatzmaterial
Aus der Psychotherapie-Richtlinie in der Fassung vom 19. Februar 2009 veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 58 (S. 1 399); zuletzt geändert am 20. November 2020, veröffentlicht im Bundesanzeiger (BAnz AT 17.02.2021 B1), in Kraft getreten am 18. Februar 2021:
1§ 27 Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie
Absatz 1: Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinie bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein: 1. Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie; 2. Angststörungen und Zwangsstörungen; 3. Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen); 4. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen; 5. Essstörungen; 6. Nichtorganische Schlafstörungen; 7. Sexuelle Funktionsstörungen; 8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen; 9. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend.
(2) Psychotherapie kann neben oder nach einer somatisch ärztlichen Behandlung von Krankheiten oder deren Auswirkungen angewandt werden, wenn psychische Faktoren einen wesentlichen pathogenetischen Anteil daran haben und sich ein Ansatz für die Anwendung von Psychotherapie bietet; Indikationen hierfür können nur sein: 1a. Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (Alkohol, Drogen und Medikamente), im Falle der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen beschränkt auf den Zustand der Suchtmittelfreiheit beziehungsweise Abstinenz. Abweichend davon ist eine Anwendung der Psychotherapie bei Abhängigkeit von psychotropen Substanzen dann zulässig, wenn die Suchtmittelfreiheit beziehungsweise Abstinenz parallel zur ambulanten Psychotherapie bis zum Ende von maximal zehn Behandlungsstunden erreicht werden kann. Das Erreichen der Suchtmittelfreiheit beziehungsweise der Abstinenz nach Ablauf dieser Behandlungsstunden ist in einer nicht von der Therapeutin oder von dem Therapeuten selbst ausgestellten ärztlichen Bescheinigung festzustellen. Diese Feststellung hat anhand geeigneter Nachweise zu erfolgen. Sie ist von der Therapeutin oder von dem Therapeuten als Teil der Behandlungsdokumentation vorzuhalten und auf Verlangen der Krankenkasse vorzulegen. Kommt es unter der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung zu einem Rückfall in den Substanzgebrauch, ist die ambulante Psychotherapie nur fortzusetzen, wenn unverzüglich geeignete Behandlungsmaßnahmen zur Wiederherstellung der Suchtmittelfreiheit beziehungsweise Abstinenz ergriffen werden.
2§1, Absatz 5: Psychotherapie ist keine Leistung der GKV und gehört nicht zur vertragsärztlichen Versorgung, wenn sie nicht dazu dient, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Dies gilt ebenso für Maßnahmen, die ausschließlich zur beruflichen Anpassung oder zur Berufsförderung bestimmt sind, für Erziehungsberatung, Paar- und Familienberatung, Sexualberatung, körperbezogene Therapieverfahren, darstellende Gestaltungstherapie sowie heilpädagogische oder ähnliche Maßnahmen.
3§27, Absatz 3: Psychotherapie ist als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, wenn: 1. zwar eine seelische Krankheit vorliegt, aber ein Behandlungserfolg nicht erwartet werden kann, weil dafür bei der Patientin oder dem Patienten die Voraussetzung hinsichtlich der Motivationslage, der Motivierbarkeit oder der Umstellungsfähigkeit nicht gegeben sind, oder weil die Eigenart der neurotischen Persönlichkeitsstruktur (gegebenenfalls die Lebensumstände der Patientin oder des Patienten) dem Behandlungserfolg entgegensteht [...].
Bildquelle: Robert Zunikoff, unsplash