Was ist die Motivation, sich nach dem Medizinstudium gegen eine Karriere als praktizierender Arzt zu entscheiden? Und welche Alternativen bieten sich einem Absolventen, der mit diesem Gedanken spielt? Wir führten mit einem „Aussteiger“ ein Gespräch über Zufälle, Politisierungsschübe und kritische Geister.
„Dem deutschen Gesundheitswesen gehen die Ärzte aus“, betitelte der Bundesverband der Deutschen Kassenärzte seine „Studie zur Altersstruktur- und Arztzahlentwicklung“ aus dem Jahre 2010. Neben der demographischen Entwicklung – der Report geht davon aus, dass zwischen 2010 und 2020 bis zu 48% aller Hausärzte in den Ruhestand gehen - und der konstant hohen Zahl an Emigration deutscher Ärzte, beschäftigt sich der Bericht auch mit dem Ausstieg von Ärzten aus der kurativ ärztlichen Tätigkeit. Er fragt explizit nach deren Motivation und konstatiert, dass ‚Aussteiger‘-Ärzte sich v. a. an der Bezahlung, der zeitlichen Belastung und der damit einhergehenden Unvereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der zunehmenden bürokratischen Belastung des Berufes stoßen. Der „erhöhte Bedarf an Medizinern“ in anderen Branchen führe, laut Bericht, zu einer Verschärfung der „Knappheit auf dem ärztlichen Arbeitsmarkt.“ Die Bereiche, in denen Ärzte nachgefragt sind, sind dabei vielfältig. Neben dem Gesundheitsmanagement, der pharmazeutischen Forschung und Medizininformatik eröffnen sich Ärzten auch Beschäftigungsmöglichkeiten im Bereich der Gesundheitspolitik oder in Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Wir sprachen hierzu mit Dr. med. Andreas Wulf, dem stellvertretenden Abteilungsleiter der Projektkoordination von medico international. Medico international ist eine 1968 von Frankfurter Bürgern gegründete, globalisierungskritische Hilfs- und Menschenrechts-NGO, die Partner und Projekte in Ländern des ‚Globalen Südens‘ unterstützt und sich in Deutschland mit gesundheits- und entwicklungspolitischen Themen beschäftigt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einem sozialen ganzheitlichen Blick auf Gesundheit und einer Stärkung lokaler Initiativen und internationaler Netzwerke. © Andreas Wulf DocCheck: Herr Wulf, Sie sind Projektmanager bei medico international. Als Sie 20 waren, dachten Sie da, das wäre der Job, den Sie einmal machen würden? Wulf: Nein, auf keinen Fall. DocCheck: Was haben Sie denn gedacht, was Sie werden würden? Wulf: Ich wollte natürlich Arzt werden, obwohl ich noch keine klinische Richtung anvisiert hatte. Aber Arbeit in der Solidaritätsbewegung, Arbeit im Ausland, damit hatte ich noch gar keine Berührung. DocCheck: Was war Ihre Motivation, Arzt zu werden? Wulf: Das hatte viel mit meinem Zivildienst zu tun, den ich in einer Körperbehindertenschule in Hannover gemacht habe. Nach diesem engen Kontakt mit Menschen entschied ich mich schließlich gegen ein naturwissenschaftliches oder ein Germanistik-Studium. DocCheck: Aber es ging schon ums Helfen? Wulf: Ja! DocCheck: Haben Sie denn jemals als Arzt praktiziert? Wulf: Ja, ich habe nach meinem Studium 18 Monate meinen ‚Arzt im Praktikum‘ (AiP) in der Unfallchirurgie gemacht, bis sich dann durch Zufall diese Stelle hier bei medico ergab. DocCheck: Das heißt, Sie haben sich beworben und die Stelle nicht über Kontakte bekommen? Wulf: Richtig, es gab eine offizielle Stellenausschreibung in der Zeitung. Die habe ich rein zufällig gesehen und mich beworben, weil sie interessant klang. DocCheck: War es denn ein gedanklicher Prozess, an dessen Ende die Feststellung stand, dass Sie nicht als Arzt praktizieren möchten? Wulf: Nein, zumal die Stelle erst einmal, wie bei medico üblich, auf zwei Jahre befristet war. Es war für mich ein Probelauf und ich hatte den Vorsatz, als Klinikarzt weiterzumachen, sollte mir die Arbeit nicht gefallen. Ich habe 1994 meinen Abschluss gemacht, im Anschluss meine Doktorarbeit in der Medizingeschichte und 1996 meinen ‚AiP‘. Das waren Zeiten, in denen es eine regelrechte Ärzteschwemme gab. Insbesondere, wenn man in Berlin bleiben wollte. DocCheck: Aber dass Sie bei medico angefangen haben, hatte nichts mit Ihren Erfahrungen im AiP zu tun? Wulf: Nein, ich hatte eher eine ganze Reihe von Ideen, was ich als Arzt machen wollte: Anästhesie, Psychotherapie oder Physikalische Therapie. Was ich wusste war, dass ich trotz meiner Doktorarbeit nicht Medizinhistoriker werden wollte. DocCheck: Und war es eine Umstellung, bei medico anzufangen? Wulf: Ja, denn auch wenn es so klingt, ist medico keine Ärzte-Organisation. Ich war der einzige Arzt im Team und es drehte sich viel um internationale Gesundheitsperspektiven und Arzneimittelpolitik. Themen, mit denen ich als Student nicht viel zu tun hatte. Natürlich war das für mich eine besondere Situation. DocCheck: Das hieß viel Einarbeitung? Wulf: Ja, genau. Aber das war sehr spannend. Im Gegensatz zu einem autoritär strukturierten Krankenhaus mit Chef- und Oberärzten, bot medico eine ganz andere Freiheit und Selbstbestimmtheit. Das kam mir sehr entgegen. Hier musste ich mir meinen Arbeitsbereich selbstbestimmt thematisch aufbauen. Dieses Klima empfand ich als so attraktiv, dass es sicherlich die Frage beeinflusst hat, ob ich in ein Krankenhaus-System zurück will, indem man sehr stark von diesen hierarchischen Arbeitsstrukturen abhängig ist. Dazu kam, dass mir der thematische Schwerpunkt auf Gesundheitspolitik und internationale Gesundheitsnetzwerke, den ich als einziger Arzt im Team hatte, sehr gefiel. Aber natürlich gilt auch: Wenn man sich selbst organisieren muss, gibt es eine Tendenz zur Selbstausbeutung. DocCheck: Wie beurteilen Sie Ihr Studium rückwirkend? Haben Sie Kompetenzen mitgenommen, die Sie später brauchten? Wulf: Ja, bei meiner Arbeit sind die medizinischen Kenntnisse wesentlicher Teil meiner Kompetenz. Man kann aber auch festhalten, dass ich meine kritische Reflexion auf Gesundheit nicht im Studium selbst, sehr wohl aber auf der Uni gelernt habe. Erst durch meine Arbeit im AStA, in der Medizin-Fachschaftsinitiative und durch den Aufbau des Büros für medizinische Flüchtlingshilfe in Berlin habe ich gelernt, politisch zu denken und aktiv zu werden. Darüber hinaus waren wir als Medizinstudenten 1988 am Uni-Streik in Berlin beteiligt und haben uns kritisch mit Themen des Medizinstudiums und Curriculums auseinandergesetzt [Anm. der Red.: Direkte Folge des Streiks war die Einfürung des Reformstudiengangs der Medizin an der Charité Berlin]. Durch meine Doktorarbeit in der Medizingeschichte habe ich schließlich gelernt, mir gezielt Informationen und Material zu erschließen, zu strukturieren und zu bewerten. DocCheck: Was haben Sie aus Ihrem Studium nie gebraucht? Wulf: Die klassischen naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer brauche ich natürlich eher selten. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Das Curriculum als solches haben wir gar nicht kritisiert. Was wir stattdessen kritisiert haben ist, dass es an Reflexion mangelte und sozialwissenschaftliche Bezüge nur sehr peripher vorkamen. Das blieb einzig dem zusäztlichen persönlichen Engagement überlassen. Ich sehe aber auch, dass die Medizinstudenten, mit denen ich heute zu tun habe, es, wie ich damals, hinbekommen, sich aus dem Studium das herauszuholen, was sie brauchen. Aber vielleicht bekomme ich auch eher die kritischen Geister zu Gesicht. DocCheck: Würden Sie denn sagen, es ist heute weniger exotisch, einen Weg einzuschlagen, der Ihrem ähnelt? Wulf: Ich hatte im Gegenteil auch schon bei uns den Eindruck, dass sich gewisse Leute sehr bewusst entschieden haben, noch etwas anderes nebenbei zu studieren oder sich anderweitig politisch zu betätigen. Was heute sehr viel häufiger zu sein scheint sind Auslandsaufenthalte während des Studiums. DocCheck: Glauben Sie denn, dass die Menschen, die politisch sind, sich heute weniger vom Medizinstudium angezogen fühlen als früher? Wulf: Ich glaube eher, dass es Momente gibt, in denen sich Menschen im Studium politisiert haben, wie zum Beispiel im Uni-Streik 1988. Das war ein richtiger Politisierungsschub, weil man sich entscheiden musste, auf welcher Seite der Blockade man steht, beispielsweise, ob man dafür kämpft, in seinen Unterricht zu kommen oder das Studium zu verändern. Was viel wichtiger ist, ist, dass man nicht ins Studium kommt und schon genau weiß, was man später machen wird. Studieren ist vielmehr eine Phase im Leben, in der man sich in der Welt zurechtfindet und bewährt. Dann entscheidet man, wie sehr man sich anpasst oder seinen eigenen Weg geht. Beispielsweise, indem man die Strukturen kritisiert, mit denen man konfrontiert ist. DocCheck: Haben Sie noch Kontakt zu Studienfreunden aus Ihrer Uni-Zeit? Wulf: Ja, meine Verbindung nach Berlin ist immer noch sehr stark. Der Kreis derer, die überwiegend in der Medizin weiterarbeiten, ist schon ein wichtiger Teil meines Lebens. DocCheck: Würden Sie mir einmal einen typischen Arbeitstag beschreiben? Wulf: Ich setze mich an meinen Schreibtisch und arbeite mich durch meine Texte, Korrespondenzen und Planungen. (lacht). Nein, die Arbeit ist sehr bunt, weil sich – was ich sehr schätze – viel um den direkten Kontakt zu den Projektpartnern dreht: Berichte und Fragen aus verschiedenen Ländern, gemeinsame Überlegungen, wie medico die Projekte unterstützen kann; aber auch das kritische Einbringen in das Konzert der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Es ist faktisch viel Kommunikation und Büroarbeit. Zwischendurch gibt es aber immer wieder Dienstreisen. Wir begleiten unsere lokalen Partnerorganisationen, die die Projekte durchführen und auch konzipieren. DocCheck: Wie oft im Jahr sind Sie unterwegs? Wulf: Ich mache drei bis vier außereuropäische Reisen im Jahr, plus einige wenige nach Brüssel, in die Schweiz oder nach Amsterdam. Manche Jahre sind es mehr, manche weniger. DocCheck: Und wenn Sie ein Projekt besuchen, wie lange sind Sie dann vor Ort? Wulf: Das sind normalerweise kurze Aufenthalte: zwei bis maximal drei Wochen. Unser Büro in Ramallah für die Israel/Palästina-Arbeit, in dem Kollegen dauerhaft vor Ort sind, ist die Ausnahme. DocCheck: Was sehen Sie als Vor- und Nachteile ihrer Tätigkeit im Vergleich zu der eines praktizierenden Arztes? Wulf: Die Vogelperspektive, die wir haben, also Projekte und Strukturen im Gesundheitsbereich vor allem von außen zu sehen, hat ihre Vor- und Nachteile. Wie jemand, der im öffentlichen Gesundheitswesen tätig ist, sehe ich keine Patienten, sondern arbeite eher strukturell. Das unmittelbare Involviertsein mit Patienten fehlt dabei, dieses befriedigende Gefühl, ganz konkret geholfen zu haben und die Dankbarkeit von Patienten zu erfahren. Der Vorteil davon ist andererseits, dass ich einen viel größeren Überblick bekomme und in vielen Ländern gleichzeitig tätig sein kann. Hier kann ich in Beratungen und Planungen einen größeren Horizont einbringen, Inspirationen aus anderen Zusammenhängen. Und zugleich ist medico als Organisation klein genug ist, um immer wieder Neues kennenzulernen, sich in neue Länder, neue Themenbereiche einzuarbeiten. Langeweile kommt da nicht auf. Das ist etwas, das man nicht so oft findet. Außerdem muss ich hier keine Nachtschichten machen, auch wenn ich, anders als der klassische, lokal gebundene Arzt, natürlich viel unterwegs bin und auch das anstrengend werden kann. DocCheck: Eine letzte Frage: Denken Sie manchmal darüber nach, wie es wäre, einen anderen Weg gegangen zu sein? Wulf: Nicht mehr (lacht), einige Jahre schon nicht mehr. Es gab sicherlich in den ersten Jahren die Frage, ob ich noch einmal zurück will in die klinische Medizin, ob ich mir überhaupt vorstellen kann, diese Arbeit bis zum Rentenalter zu machen. Das hat nachgelassen, was allerdings auch daran liegt, dass eine Rückkehr nicht mehr so realistisch ist. Aber noch einmal etwas Neues zu machen, darüber denke ich immer mal wieder nach. DocCheck: Vielen Dank für das Interview.