Wer etwas über seltene Erkrankungen lernt, fragt sich oft: Werde ich das je brauchen? Als Hausärztin merke ich aber häufig, wie wichtig das kleine Klingeln im Kopf ist.
„Häufiges ist häufig, Seltenes ist selten“ war ein Spruch eines meiner Professoren im Studium. Eine andere Variante (die ich auch häufiger Studenten gegenüber benutze): „Wenn es aussieht wie ein Pferd, ist es auch meistens ein Pferd und kein Zebra.“
Worum es dabei geht? Im Studium lernt man im Rahmen der ganzen Multiple-Choice-Fragen unheimlich viele Erkrankungen, die man im Leben nie sehen wird. Zumindest mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit. Warum sollte man sie dann überhaupt lernen?
Mir fallen da spontan zwei Gründe ein: Zum einen lassen sich aus akademischer Sicht anhand vieler dieser Erkrankungen bestimmte pathophysiologische Zusammenhänge sehr gut darstellen. „Schaut, da ist der Effekt, wenn dieses Enzym/Gen kaputt ist, also merkt Euch: Dieses Enzym/Gen macht das und das.“ (z. B. Alpha-1-Antitrypsinmangel). Außerhalb der Lungenheilkunde wird man dieser Erkrankung wahrscheinlich eher selten begegnen, aber sie illustriert im Studium, wie sich ein Enzymmangel auswirken kann.
Aber damit kommen wir zu Grund Nummer zwei: Manchmal sieht man eben DOCH solche Patienten. Klar sind seltene Erkrankungen selten, aber im Laufe eines Arzt-Lebens sieht man halt auch viele Patienten – und dann kommen doch ab und zu mal auch Patienten mit seltenen Erkrankungen in die Praxis. Manche haben ihre Diagnose schon, andere nicht. Und gerade dann ist es gut, wenn irgendwo im Hinterkopf noch etwas „klingelt“, damit man den Patienten in die richtige Richtung leiten kann.
Denn für die Patienten hängt natürlich oft viel davon ab, dass sie die richtige Diagnose (und damit auch Therapie) bekommen.
Ein Beispiel aus der Praxis von vor mehreren Jahren: Eine Mittvierzigerin, sportlich, kommt mit einem Arztbrief der Gynäkologie, da sie in der Voruntersuchung vor einer Gyn-OP einen neu aufgetretenen Linksschenkelblock hatte. Ein Cardio-CT zeigte keine Auffälligkeiten, keinerlei Risikofaktoren für eine koronare Herzerkrankung (KHK). Somit wurde das abgeheftet unter „hat sie einfach“.
Einige Monate später kommt die Patientin zu uns mit einem massiven Leistungsabfall („Ich kann die Wäsche nicht mehr aufhängen und komme keine Treppe mehr hoch“). Diagnose: AV-Blockierung III° mit Kammerersatzrhythmus, Herzfrequenz konstant bei ca. 43/min. Im Krankenhaus wurde ihr dann ein Schrittmacher eingebaut – und sie wurde postwendend entlassen. Mir kam das schon seltsam vor, aber so richtig eine Idee, was es sein könnte, hatte ich auch nicht. Im Verlauf weitere Verschlechterung der kardialen Situation, weitere Belastungsdyspnoe, letztlich auch Verschlechterung der Ejektionsfraktion ohne klassische regionale Wandbewegungsstörungen wie bei einer KHK. Das Labor war ohne wegweisenden Befund – die einzige (!) Auffälligkeit war eine leichte Lymphknotenvergrößerung im Lungenhilus beim Röntgen-Thorax. Glücklicherweise hatte ich mich mit einer pulmologisch versierten Kollegin darüber unterhalten, weil mich das so beschäftigt hat. Die meinte: „Klär auf jeden Fall eine kardiale Sarkoidose ab.“
Ich hab mich dann nochmal belesen und nach wirklich wochenlangem Hin und Her mit den Pulmologen („Sie hat passende Granulome in den Lymphknoten, aber kein Lungenproblem, also sind wir nicht zuständig.“) und den Kardiologen („Sarkoidose ist eine Lungenkrankheit und wenn das pulmonal keine ist, warum sollte es dann kardial eine sein.“) gab es dann endlich für die Patientin nach einem Kardio-MRT (glücklicherweise war der Schrittmacher MRT-fähig) die Diagnose „kardiale Sarkoidose“ (gemäß dem Konsensuspapier der DGK). Und sie ist nach langem Telefonieren in einer Spezialambulanz. Die dann eingeleitete Cortisontherapie hat immerhin die Herzfunktion wieder normalisiert, die Rhythmusstörungen waren leider irreversibel, so dass sie inzwischen einen CRT-D-Schrittmacher hat.
Leider bekommt man als Hausarzt nur wenig Unterstützung, wenn es um die Abklärung dieser seltenen Fälle geht. Am besten ist meiner Erfahrung nach ein Netzwerk an Leuten, das man fragen kann, um einen Tipp in die richtige Richtung zu bekommen. Ja, es gibt Angebote wie die Zentren für seltene Erkrankungen, aber die sind oft überlastet und es dauert Monate, bis die Patienten dort wirklich gesehen werden können. Und oft sind es glaube ich gar nicht die extrem seltenen Erkrankungen, sondern nur etwas, was vielleicht nicht der eigenen Fachrichtungs-Erfahrung entspricht (siehe oben).
Das Haus, in dem ich z.B. meine Klinikzeit größtenteils gemacht habe, hatte keine Nephrologie/Rheumatologie – was ich heute oft bedauere, weil ich mich in diesen Bereichen nicht so fit fühle wie z.B. in der Gastroenterologie. Hinzu kommt, dass man einfach doch in der Hausarztpraxis nicht so einfach am Puls der Zeit mit sämtlichen Neuerungen bleiben kann – auch wenn man es mit Fortbildungen versucht.
Und die persönliche Ansprache hilft auch, damit Leute sich wirklich mit dem Thema beschäftigen. Denn im Alltag gibt es kaum Möglichkeiten, sich mal in Ruhe mit einem Fall hinzusetzen und alles nochmal durchzugehen – dafür sehen wir einfach zu viele Patienten (Nachdenken/Ursachenforschung ist in den DRGs leider nicht vorgesehen). Deswegen ist meine Erfahrung, dass man besser Kollegen direkt anspricht (wenn alle „Hausaufgaben gemacht sind“ und man die häufigen Ursachen ausgeschlossen hat, also nur selten), um dann ihre Expertise auch anzapfen zu können.
Denn: Für die Patienten ist es extrem wichtig – und bei vielen Erkrankungen ja auch für die Prognose entscheidend. Deswegen werde ich mich jetzt auch wieder hinsetzen und recherchieren. Ich fürchte, ich habe heute wieder ein Zebra gesichtet …
Bildquelle: Simon Hurry, unsplash