Physios und ihre Kollegen haben einen schweren Stand: Die Ausbildung ist veraltet, die Kohle stimmt nicht und ohne Arzt geht im Alltag gar nichts. Wie soll’s weitergehen?
„Ich habe akute Schmerzen im unteren Rücken.“
„Alles klar, dann kommen Sie doch in acht Wochen wieder.“
Klingt nach unterlassener Hilfeleistung, ist aber traurige Realität in vielen Physiotherapie-Praxen. Neupatienten können nicht angenommen, Bestandspatienten nur mit großen Wartezeiten vertröstet werden. Und das in einer Zeit, in der der demografische Wandel die Heilmittelberufe wichtiger werden lässt denn je, wie der Heilmittelbericht 2021/2022 mit Blick auf die Alters- und Patientengruppe der über 60-Jährigen schließen lässt.
Schon heute gehören Rücken-, Nacken- und Gelenkschmerzen zu den größten Volksleiden und können immer schwieriger versorgt werden. Der Kern des Problems ist jedoch weniger das Können als das Wollen: Es findet sich einfach niemand, der den Job machen möchte. Tendenz weiter sinkend.
Wirft man einen Blick auf die Zahlen – die zweifelsohne ein deutliches Bild der Stimmung wiedergeben – kann man dabei zunächst festhalten, dass es unerheblich ist, welchen Heilmittelberuf man als Beispiel für die Lage in Deutschland heranziehen möchte. Ob Logopäden, Ergotherapeuten, Podologen oder Physiotherapeuten – man bläst ins selbe Horn: Weniger Berufseinsteiger, schwierigere Arbeitsbedingungen, wenig Unterstützung.
Als größte Berufsgruppe zeigen die Zahlen bei den Physiotherapeuten das Problem am deutlichsten: So besteht aktuell in 14 von 16 Bundesländern ein Fachkräftemangel in den Heilmittelberufen. Rund 189 Tage warten Praxisinhaber nach Ausschreibung auf eine Neubesetzung der Stelle. „Es gibt mehr Stellen als Bewerber. Man muss in der Regel ein halbes Jahr warten, bis überhaupt ein Bewerber kommt. Die Entwicklung nimmt seit Jahren zu, aber wir haben noch keine Lösung, wie wir das umkehren können“, bestätigt Michael Maiwald, der Vorstandsvorsitzende für Mitteldeutschland von Physio Deutschland.
Gleichzeitig spitzt sich die Lage am anderen Ende ebenfalls zu: Es fehlt an Nachwuchs – wobei das auch erst auf den zweiten Blick ersichtlich ist, denn die Zahlen allein gaukeln erst einmal Erfolg vor. So gab es 2001 20.812 Auszubildende in der Physiotherapie gegenüber 21.954 im Jahrgang 2019/20. Gleichzeitig lagen die Absolventenzahlen jedoch nur noch bei 5.331 (2019) gegenüber 6.182 (2001). Das ist das erste numerische Indiz dafür, dass die Ausbildungslage nicht zum Verbleib im Job anregt.
Und auch die bereits in Lohn und Brot stehenden Therapeuten passen ihren Arbeitsalltag den schwieriger werdenden Bedingungen an. Zwar stieg die Gesamtzahl an Physios in Krankenhäusern mit 19.386 (2019) gegenüber 16.246 (2001), allerdings verdoppelte sich auch die Zahl der darunter Teilzeitbeschäftigten von 5.298 auf 10.026. Noch offensichtlicher ist die Lage bei den Therapeuten im Vorsorge- und Rehabereich. Hier stieg die Gesamtzahl von 8.900 (2001) auf 11.630 (2019), gleichzeitig verdreifachte sich die Menge an Teilzeitlern von 1.811 (2019) auf 5.477 (2019). Ist das Indiz Nummer 2?
„In absehbarer Zeit wird nicht viel Personal nachrücken. Dazu kommt, dass über 30 Prozent der Physiotherapeuten über 55 Jahre alt sind und irgendwann aufhören“, meint Maiwald. Hinzu kommt, dass die derzeitig tätigen Physiotherapeuten im Schnitt lediglich rund sieben bis acht Jahre in der Physiotherapie bleiben. Indiz Nummer 3?
Doch woher kommt der Unmut? Ist es wieder nur das liebe Geld?
Keineswegs! – sagen die Berufsvertreter und wollen nicht das Geld als alleinige Ursache verstanden wissen. Viel eher ist es ein Potpourri aus Gründen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben, ineinandergreifen und sich stetig verschlechtert haben. Sicherlich müsse das Geld, das mehr im System ankommt, auch bis an die einzelnen Therapeuten weitergeleitet werden, doch „die Gründe für diese Entwicklung liegen unter anderem auch in der mangelnden Autonomie und der fehlenden beruflichen Perspektive“, so die Zusammenfassung des Bündnisses Therapieberufe an die Hochschulen, das mit seinem Namen auch bereits die Kernforderung für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft formuliert hat.
Der Vorteil, den eine Akademisierung mit sich brächte: Klare erweiterte Handlungsgebiete mit mehr Eigenverantwortlichkeit und Loslösung von der Ärzteschaft. Was sich nach Konfliktpotenzial mit eben jenen anhört, ist es jedoch keineswegs. So stimmt die DKG bereits einigen Erweiterungen des heilberuflichen Tätigkeitsfeldes zu – die Akademisierung vorausgesetzt. Darunter sind beispielsweise eine physiotherapeutische Diagnostik (inkl. Screening auf Risikofaktoren und Diagnosestellung), Festlegung von therapeutischen Maßnahmen (auch deren Frequenz und Dauer), die Anordnung bildgebender Verfahren, die Ausstellung von Krankschreibungen oder die Bereitstellung eines Angebots zur präventiven Beratung.
Dagmar Karrasch, Präsidentin des Bundesverbands für Logopädie (dbl), beschreibt die aktuell noch betrübliche Situation in Sachen Komeptenzen: „Wir sehen leider immer wieder, dass Therapeut:innen ihren Beruf wechseln. Auch aufgrund der wirtschaftlichen und hierarchischen Rahmenbedingungen und der bisherigen Kompetenzverteilung. Wenn ich Leistungen erbringen könnte, die meinen Patient:innen mehr nützen, aber ich sie in dieser Form nicht erbringen darf, weil das einfach nicht vorgesehen ist.“
Doch all die Probleme sind ja nicht neu – viel eher ist der Schwund an Fachpersonal seit einer erfreulichen Ausbildungshochzeit gegen 2007/08 rapide mitzuerleben. Bereits 2017 setzte das Gesundheitsministerium daher einen Gesetzesentwurf auf, um „den Berufsstand der Heilmittel-Therapeuten attraktiver zu gestalten und dadurch Nachwuchsgewinnung und künftige Versorgungssicherheit zu fördern“. Darin sollten die Preise der Leistungen stark erhöht und Strukturen vereinheitlicht werden.
Dass die neuen Vergütungen umgehend umgesetzt wurden und die Krankenkassen in Folge rund drei Milliarden Euro mehr für die selben Leistungen ausgaben, versprach ein guter Start und Anreiz für den Nachwuchs zu sein. Vier Jahre später weiß man: Das Geld blieb zu 57 % auf der Strecke. Laut Barmer Heilmittelreport 2021 erzielten die Praxisinhaber für die gleichen Behandlungsumfänge einen Mehrumsatz von 43 %. Doch noch vernichtender in Sache Motivationsschub sind die Gehaltsentwicklungen für angestellte Therapeuten (außerhalb von Krankenhäusern): Hier betrug die Steigerung lediglich knapp 20 %.
Dass das Heilberufsgesetz nun erneut auf der Agenda der Gesundheitspolitiker steht, ist also noch kein Garant für bessere Zeiten. Dass dem Wunsch nach (Teil-)Akademisierung entsprochen werde, ist aber zumindest ein Indiz dafür, dass es in die richtige Richtung geht – oder?
Bildquelle: Toa Heftiba, Unsplash