Helles Licht, ein Tunnel oder außerkörperliche Erfahrungen – sind Nahtoderlebnisse nur neurologische Streiche des Gehirns beim Übergang vom Leben zum Tod? Oder doch mehr als das? Die britische AWARE-Studie hat versucht, mehr Licht ins Dunkel ums Jenseits zu bringen.
Die Idee war simpel und zugleich genial: Wissenschaftler verteilten bunte Bilder auf über 1.000 Schränken in Räumen von Krankenhäusern, in denen Patienten nach einem Herzstillstand häufig reanimiert werden. Damit wollten sie prüfen, wie realitätsnah die immer wieder beschriebene Nahtoderfahrung ist, seinen sterbenden Körper zu verlassen und wortwörtlich über der Szenerie zu schweben. Bei dieser sogenannten Out-of-Body-Experience (OBE) oder außerkörperlichen Erfahrung sollten die Bilder für die "schwebenden" Betroffenen sichtbar sein, so die Vermutung. Ihre Studie, die von der University of Southampton in England finanziert wurde, veröffentlichten sie im Fachmagazin Resuscitation. In 15 Krankenhäusern in den USA, Österreich und Großbritannien präparierten Wissenschaftler Räume nach diesem Prinzip. Während des vierjährigen Studienzeitraums erlitten 2.060 Patienten in den teilnehmenden Krankenhäusern einen Herzstillstand. 330 von ihnen konnten reanimiert werden. 140 dieser Patienten waren gesundheitlich in der Lage, einen eigens für Nahtoderlebnisse etablierten Fragenkatalog, die sogenannte Greyson NDE-Skala, zu beantworten.
55 Patienten gaben an, sich an die Zeit zwischen ihrem Herzstillstand und der erfolgreichen Reanimation erinnern zu können. Etwa die Hälfe von ihnen (27) hatte das Gefühl, dass in dieser Zeit alles wesentlich schneller oder langsamer passierte als normalerweise. 22 Patienten berichteten von Gefühlen des Friedens und Wohlbehagens, 13 von „geschärften Sinnen“, konnten sich aber nicht an Details erinnern. „Das deutet darauf hin, dass das Gedächtnis offenbar bei mehr Menschen anfangs aktiv ist, das Erinnerungsvermögen später aber aufgrund von Verletzungen im Gehirn oder sedativen Medikamenten verloren geht“, interpretiert Studienleiter Dr. Sam Parnia. Die übrigen Empfindungen der Reanimierten waren breitgefächert.
13 Patienten berichteten außerdem von dem Gefühl, ihren Körper während des Herzstillstandes verlassen zu haben. Doch ausgerechnet die Personen mit dieser Empfindung waren außerhalb jener Räume ins Leben zurückgeholt worden, die von den Wissenschaftlern zuvor mit den Bildern präpariert worden waren.
Die Schilderungen eines 57-jährigen Patienten aus England waren allerdings erstaunlich präzise. Dem Interviewbogen zufolge konnte er sich genau an die Geschehnisse in seiner Umgebung während seines Herzstillstandes erinnern – teilweise aus der Vogelperspektive. Kurz nachdem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, verspürte der Mann einen starken Druck auf seinen Brustkorb, allerdings keinen Schmerz, wie er beschrieb. Dann hörte er eine Computerstimme, sagen „shock the patient, shock the patient“. Dabei winkte ihm eine Frau aus der oberen Ecke des Zimmers zu, wie er berichtete. Während er bei sich dachte „da komme ich nicht hoch“, hatte er das Gefühl, dass sie ihn kannte und er ihr vertrauen könne. Im nächsten Moment schwebte er ebenfalls an der Zimmerdecke und betrachtete die Szenerie unter sich. Was der Mann dann beschrieb, entsprach tatsächlich der Realität, wie die Krankenakte später bewies: „Ich sah eine Krankenschwester und einen Arzt, der eine Glatze hatte. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber die Rückseite seines Körpers; er war recht stämmig. Der Arzt trug blaue OP-Bekleidung und an der Position seiner Kopfbedeckung konnte ich erkennen, dass er keine Haare hatte.“ Das nächste, woran sich der Mann erinnerte, war der Moment, als er aufwachte. „Sie waren weg, aber jetzt sind sie wieder bei uns“, hörte er die Krankenschwester sagen. Tatsächlich hatten die Ärzte einen automatisierten, externen Defibrillator benutzt, von dem die Computerstimme herrührte. Und in der Tat war der Mann von einem stämmigen Arzt mit Glatze wiederbelebt worden. Ob der Arzt den Raum allerdings erst betreten hatte, nachdem der Herzstillstand des Patienten eingetreten war, geht aus den Beschreibungen der Wissenschaftler nicht hervor. In diesem Fall hätten die Bilder auf den Schränken wertvolle Hinweise liefern können, ob der Patient tatsächlich einen Perspektivenwechsel erlebt hatte.
Für die Forscher ist dieser Erfahrungsbericht dennoch ein stichhaltiger Beweis, dass es sich bei Nahtoderlebnissen nicht um Hirngespinste handelt: „Nahtoderfahrungen wurden bisher oft als Halluzinationen oder Illusionen betrachtet, die unmittelbar vor dem Herzstillstand oder kurz nach der Reanimation auftreten. Man ging davon aus, dass sie mit den wahren Begebenheiten während des Herzstillstandes nichts zu tun haben“, so Dr. Parnia, und weiter: „In diesem Fall nahm der Patient Dinge bewusst wahr, die während seines dreiminütigen Herzstillstandes passierten. Das ist paradox, wenn man bedenkt, dass das Gehirn normalerweise 20 bis 30 Sekunden nach dem Herzstillstand seine Funktion einstellt und diese nicht wieder aufnimmt, bevor das Herz wieder schlägt. Außerdem entsprachen die detaillierten Erinnerungen des Patienten den tatsächlichen Begebenheiten.“ Erklärungen für diesen Fall gibt es bisher nicht. Mit den Erfahrungen von Komapatienten oder narkotisierten Menschen hätten diese Erfahrung allerdings nichts zu tun, davon sind die Forscher überzeugt. Nahtoderlebnisse könnten vielfältiger sein, als bisher angenommen, schließen die Wissenschaftler aus den Auswertungen ihrer Patientenbefragungen. Ob es sich bei Nahtoderfahrungen aber um eine Art Halluzination handelt oder ob die Menschen am Scheideweg zwischen Leben und Tod tatsächlich einen Bewusstseinszustand außerhalb des Körpers erleben, bleibt trotz der eindrucksvollen Schilderungen des 57-Jährigen ungeklärt. „Echte, vorurteilsfreie Untersuchungen zu den Erfahrungen rund um den Tod“, fordern die Wissenschaftler um Parnia daher in ihren Schlussworten ein. Diese sollten auch beinhalten, warum sich manche fast verstorbenen Menschen gar nicht an die Zeit unmittelbar nach ihrem Herzstillstand erinnern können.