85 Prozent der ambulanten HNO-Ärzte wollen Tonsillotomien für GKV-Patienten aussetzen. Das Ziel dieses Mandelstreiks: mehr Geld oder eine Hybrid-DRG.
„Falschaussagen“, „Diffamierung“, „dumpfer Populismus“: Der Deutsche Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte geht in die Offensive. Vor einer Woche hatte der BVHNO operierende ambulante HNO-Ärzte dazu aufgerufen, vorerst keine Entfernung der Rachenmandel (Adenotomie mit Paukenröhrchen) und keine Teilentfernung der Gaumenmandeln (Tonsillotomie) mehr durchzuführen. Jetzt gibt der Verband bekannt, dass sich 85 Prozent der operierenden ambulanten HNO-Ärzte an dem Streik entweder beteiligen wollen oder dies schon tun. Adenotomien und Tonsillotomien werden in der Regel bei Kindern zwischen dem zweiten und achten Lebensjahr vorgenommen, ambulant oder stationär. Von rund 6.500 HNO-Ärzten in Deutschland sind 4.500 ambulant tätig, und von denen wiederum verfügen etwa 3.000 über eine Genehmigung zum ambulanten Operieren.
Anlass für den Streikaufruf war der Beschluss zu einer Teilreform des ambulanten Operierens, der im Dezember 2022 von der Selbstverwaltung, konkret GKV-Spitzenverband und Kassenärztliche Bundesvereinigung, verabschiedet worden war. In diesem Beschluss wurden ambulante operative Eingriffe niedrigerer Komplexität – dazu gehören die Mandeloperationen – in der Vergütung weiter abgesenkt, geringfügig um einige wenige Euro, wohingegen komplexere Eingriffe höher bewertet wurden. Die Verschiebung der Vergütung geht auf die (von Krankenkassenseite geforderte) Punktsummenneutralität zurück. Es handelt sich um eine Form der Budgetierung, die gewährleisten soll, dass die Gesamtausgaben bei der Neubewertung ambulanter Leistungen am Ende gleichbleiben.
Unterm Strich bleiben seit Januar bei den genannten Eingriffen für den Operateur nur noch 10 bis 20 Euro, hat der BVHNO berechnet. In ungünstigen Fällen, etwa bei einer hohen OP-Miete, müssten die Ärzte sogar draufzahlen. Der Verband betont, dass es ihm nicht primär um den überschaubaren Eurobetrag gehe, der seit Januar zusätzlich vom Honorar abgezogen werde. Vielmehr gehe es darum, auf die chronische Unterfinanzierung ambulanter Eingriffe bei GKV-Patienten aufmerksam zu machen. Einen N1-Eingriff wie die Entfernung der Rachenmandel bei Kindern könne kein OP-Zentrum für 107 Euro stemmen, da von diesen Kosten die OP-Miete (40 Euro), die Sterilisation der Instrumente (25 Euro), die OP-Assistenz (15 Euro) und weiter Posten abgezogen werden müssten.
Für ihren Aufruf in der vergangenen Woche haben die HNO-Ärzte teils scharfe Kritik geerntet. Eine Reihe von Journalisten äußerte wenig Verständnis. Wofür wiederum die HNO-Ärzte wenig Verständnis haben: „Es ist beschämend, wie unsachlich und diffamierend hier gegenüber den Ärztinnen und Ärzten vorgegangen wird“, so BVHNO-Präsident PD. Dr. Jan Löhler. „Insbesondere die Krankenkassen stechen mit Falschaussagen und dumpfem Populismus hervor. Kein Arzt wird die OP-Tätigkeit wiederaufnehmen, weil er derart beschimpft wird. Das wirkt sich vielmehr wie ein Turbo für den Ausstieg aus dem ambulanten Operieren aus.“ Auch auf Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sind die HNO-Ärzte nicht gut zu sprechen. Der Minister hatte gegenüber der BILD-Zeitung und anderen Medien betont, die Ärzte seien gierig und ließen Kinder für mehr Geld leiden. Wörtlich: „Kinder leiden zu lassen, um höhere Honorare zu erpressen, ist unethisch und inakzeptabel“.
Kritik kam auch von anderer Stelle. So sprach FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann von einer Verletzung des hippokratischen Eids. Und die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die die neuen Honorare mit den Krankenkassen verhandelt hat, ging auf Distanz: Man sei überrascht vom Vorstoß der HNO-Ärzte, so ein KBV-Sprecher gegenüber FOCUS online. Er sprach sogar von einem Plus von 2,3 % bei den HNO-Eingriffen insgesamt. Zudem könnten HNO-Ärzte jetzt die so genannte „erweiterter Nachbeobachtung“ abrechnen, das sei vorher nicht möglich gewesen. Berichten der FAZ zufolge gibt es einen Briefwechsel zwischen KBV und HNO-Verbänden, in denen man sich gegenseitig falsche Berechnungen vorwirft.
Löhler kontert jetzt in jedem Fall schneidend: „Die haarsträubenden Äußerungen des Ministers, die er dank enger Verbindungen in die Boulevardmedien verkünden ließ, offenbaren große Wissenslücken über das Abrechnungssystem in der ambulanten Versorgung. Vergleichsweise wenig komplexe ambulante Operationen werden schon seit Jahren deutlich zu gering vergütet.“ Löhler betont außerdem, dass die neue Nachbeobachtungsziffer von den Operateuren selbst nicht abgerechnet werden könne: „Die Folge ist, dass immer weniger Ärzte in diesem Teilbereich der ambulanten Versorgung, der nicht zum Pflichtprogramm der Praxisärzte gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung zählt, Leistungen anbieten.“
Den Vorwurf, wonach durch den OP-Stopp Kinder gefährdet würden, hält der BVHNO für „irritierend“. Nicht zuletzt aufgrund der Vergütungspolitik gebe es regelhaft monatelange Wartezeiten auf die genannten OPs. Jetzt so zu tun, als ob ein einige Wochen dauernder Streik eine zusätzliche Verschlechterung des Gesundheitszustands bedeute, sei vor diesem Hintergrund fragwürdig: „Würde alles weiterlaufen wie bisher, würde sich das schleichende Sterben des ambulanten Operierens abseits der öffentlichen Wahrnehmung fortsetzen“, so Löhler, der auch darauf hinweist, dass der Verband von Eltern und Ärzten viel Zuspruch erfahre.
Dass sich 85 % der operierenden ambulanten HNO-Ärzte an dem Streik beteiligen, entnimmt der BVHNO einer Umfrage, die der Berufsverband in der vergangenen Woche unter rund 1.500 Mitgliedern mit KV-Genehmigung zum ambulanten Operieren durchgeführt hat. 821 Ärzte nahmen teil, und deren Votum war deutlich:
Streikbereitschaft bei den operierenden, ambulanten HNO-Ärzten. 34 % der rund 85 % streikbereiten Kollegen starten bereits ab Januar. Quelle: BVHNO
Gefragt wurde außerdem nach der aktuellen Wartezeit für Kinderoperationen in der Region. 29 % gaben ein bis zwei Monate an. Über 70 % der Operateure berichteten von drei Monaten oder länger.
Die Frage ist jetzt natürlich: Was genau wollen die HNO-Ärzte? DocCheck hat dazu beim BVHNO nochmal nachgebohrt. Ergebnis: Es ist kompliziert. „Wir beenden den Streik, wenn wir die Zusage bekommen, dass sich etwas ändern wird“, so ein Sprecher des BVHNO. Dies müsse allerdings mehr als nur ein vages Versprechen sein. Konkret könnte vom Bundesministerium für Gesundheit eine konkrete Zusage für Hilfsmaßnahmen für ambulante Adenotomien und Tonsillotomien verfügt werden. Hierfür gibt es seit Dezember einen Präzedenzfall: Im Gefolge der problematischen Situation in der Kinderheilkunde wurden Budgets in kinderärztlichen Praxen ausgesetzt. Seither werden dort alle Leistungen zumindest temporär zu festen Preisen bezahlt. „Das wäre aus unserer Sicht eine adäquate Sofortmaßnahme“, so der Sprecher des Verbands zu DocCheck.
Alternativ könnte das Problem aus Sicht des BVHNO auf dem Weg über die laufenden Hybrid-DRG-Verhandlungen gelöst werden: Wenn für Adenotomien und Tonsillotomien eine Hybrid-DRG geschaffen würde, dann würden sich die stationären und ambulanten Honorare angleichen. Die Verhandlungen zu den Hybrid-DRG sollen Ende März abgeschlossen werden. Hier bestehe derzeit allerdings die Gefahr, dass die Aufnahme der beiden HNO-ärztlichen Leistungen wegen einer Blockadehaltung der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft scheitern könnte, so der Sprecher.
Das Thema Hybrid-DRG und der Streit zwischen HNO-Ärzten und KBV zeigen, dass der „Mandelstreik“ ein Thema ist, bei dem vielfältige Interessen kollidieren. Es geht am Ende auch um Verteilungskämpfe zwischen den Anbietern medizinischer Leistungen. Und hier gehören die politischen Sympathien weiter Teile der Ampel-Koalition bisher eher den Krankenhäusern und den Hausärzten als den niedergelassenen Praxen und den Fachärzten.
In jedem Fall wäre auch bei einer ausbleibenden Einigung bei den Hybrid-DRG der Minister am Zug, der die Aufnahme von Adenotomie und Tonsillotomie in den Hybrid-DRG-Katalog per Ersatzvornahme beschließen könnte. Das würde sich dann allerdings bis ins späte Frühjahr hinziehen. Ob der Streik so lange weiterlaufen könnte, dazu möchte man sich beim BVHNO derzeit noch nicht äußern.
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