Wir konsumieren zu viele digitale Medien – besonders Kinder und Jugendliche leiden unter den Folgen. Aber ab wann wird’s pathologisch und was kann man dagegen tun?
Eine anekdotische Szene aus dem klinischen, kinder- und jugendpsychotherapeutischen Alltag: Eine Anmeldung durch eine sehr besorgte und verzweifelte Mutter. Sie brauche dringend einen Psychotherapieplatz für ihren Sohn Tim, 16 Jahre alt. Seit dem ersten Lockdown zeige er vermehrten Medienkonsum, insbesondere PC-Spiele. Am Anfang habe man ihn „in Ruhe gelassen“. Die pandemiebedingten Einschränkungen seien für alle eine große Umstellung gewesen.
Tim sei sehr sportlich und aktiv gewesen. Er habe regelmäßig mit seinem Vater Radtouren unternommen. Die Familie halte immer zusammen. Auf einmal seien alle altersadäquaten Aktivitäten weggebrochen. Er habe daher versucht, sich mit Freunden online zu treffen. Tim sei nicht der Typ für Homeschooling. Er könne sich nicht gut konzentrieren. Er habe nie wirklich gelernt, wie man lernt. Daher falle es ihm schwer, sich die Lernzeiten einzuteilen. Auch nach dem Wegfall der Corona-Einschränkungen könne er keine Freude empfangen. Er ziehe sich weiterhin zurück, verbringe sehr viele Stunden am PC. Sein Leben drehe sich um die virtuelle Realität. Die Familie sei sehr verzweifelt, Tim auch. Er wolle sein „altes Leben“ zurück haben, wisse jedoch nicht wie.
Szenenwechsel: Hier handelt es sich um Tom. Auch 16 Jahre alt. Tom war immer ein schüchterner Junge. Sehr unscheinbar, leise und unsicher. Durch den Schulsport und den wöchentlichen bzw. täglichen Kontakt zu seinen Sportkameraden hatte er dennoch genug soziale Kontakte. Man hat ihn so angenommen, wie er ist. Viele Freunde hatte er zwar nie, aber er kam mit den meisten zurecht. Er benötigte die tägliche Schulstruktur. Tom kommt aus einem sozial benachteiligten Elternhaus. Der Vater litt an einer Angsterkrankung. Die Mutter schien mit der Erziehung der 4 Kinder überfordert. Tom ist der älteste. Er hatte – vor der Corona-Pandemie – einen stabilen sozialen Anschluss durch die Schulsozialarbeiter und die Erziehungshilfe vom Jugendamt. Auf einmal war das alles weg – und Tom traute sich nicht, Kontakt mit Gleichaltrigen aufzunehmen. Er verlief sich in die virtuelle Realität. Da fand er seine Stärke in Ego-Shooter-Spielen, wo er, im Vergleich zur Realität, stark war und alles unter Kontrolle hatte. Fragt man die Eltern von Tom, was er den ganzen Tag macht, so gibt es nur Schulterzucken. „Hauptsache, er macht sei Sach’ und gibt Ruhe!“, so die Antwort des Vaters.
In beiden Falldarstellungen handelt es sich um fiktive Charaktere. Die Entstehungsbedingungen, Symptomatik und Begleiterscheinungen spiegeln dennoch Aspekte der klinischen Realität. Auch wenn stark vereinfacht und karikiert: Diese und ähnliche Geschichten gehören zum Behandlungsalltag. Beide Geschichten mit sehr unterschiedlichen Akteuren, sehr unterschiedlichen Prognosen, protektiven Mechanismen und Risikofaktoren. Bei beiden Jugendlichen spielen die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Schulschließungen eine wichtige Rolle. Allerdings wäre es falsch, zu behaupten, dass dies die einzige Ursache für ein Phänomen ist, was eigentlich nicht neu in der kinder- und jugendpsychiatrischen Landschaft ist: riskanter oder sogar pathologischer Medienkonsum.
Dieses Phänomen war auch in der prä-Corona-Ära weit verbreitet. Allerdings wirkte die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger und Katalysator für Risikofaktoren und pathogene Einflüsse. Durch die erwähnten Maßnahmen fiel der Schutz der protektiven Faktoren – wie in den Falldarstellungen erläutert – weg. Eine psychosoziale Kompensation durch ambulante Versorgungsangebote im Gesundheitswesen, in der Schule, in den Gemeinden oder durch die Jugendämter war von heute auf morgen nicht mehr möglich. Beim Zusammentreffen dieser Dynamik mit weiteren psychiatrischen Komorbiditäten und entwicklungsphasenspezifischen Herausforderungen erhöht sich das Chronifizierungsrisiko.
Diagnostisch handelt es sich um eine Verhaltenssucht oder substanzungebundene Abhängigkeit. Hinter dem Begriff riskanter/pathologischer Medienkonsum verbergen sich unterschiedliche Manifestationen digitaler Nutzung: Nutzung von sozialen Netzwerken und Messengerdiensten (z. B. What’s App, Instagram, Snapchat, Tik Tok), internetbezogenen Spielen (z. B. Fortnite, Warcraft, Call of Duty), Video-Streaming (z. B. Netflix, Amazon Prime) und durch die pandemiebedingten Einschränkungen massiv gestiegene Nutzung pornographischer Materialien in vielen Ländern. 97 % der Kinder ab 10 Jahren nutzen das Internet, dabei sind You Tube und Instagram in der Altersklasse 10–18 Jahren besonders beliebt.
Aufgrund der weiten Verbreitung internetbezogener Diensten spricht man auch von internetbezogenen Störungen. Laut der DAK-Längsschnittstudie „Mediensucht während der Corona-Pandemie“ von 2019–2021 weist die riskante Nutzung sozialer Medien seit 2019 einen Anstieg von 26,8 % auf. Ein noch deutlicherer Trend lässt sich bei der pathologischen Nutzung sozialer Medien erkennen. Hier gibt es seit 2019 einen Anstieg von 43,7 %. An der Stelle soll betont werden, dass es sich in diesem Beitrag um den riskanten/pathologischen Umgang mit digitalen Medien handelt – nicht um den Effekt der Nutzung sozialer Medien auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bzw. die veröffentlichte positive Korrelation zwischen der Nutzungsdauer sozialer Medien und des Vorkommens depressiver Symptome. Hier gibt es durchaus teilweise widersprüchliche Evidenzlage.
Was heißt nun riskant und wann wird daraus pathologisch? Zunächst soll betont werden, dass unter den internetbezogenen Störungen oder beim riskanten/pathologischen Medienkonsum die Computerspielvariante (bzw. gemäß DSM-5 „Gaming Disorder“) die am meisten untersuchte und operationalisierte Form von Mediennutzung ist. In den gängigen Klassifikationssystemen ICD/DSM findet sich daher die „Internet Gaming Disorder“ (DSM-5) bzw. die „Computerspielsucht“ (ICD-11). Dabei zählt dieses Störungsbild zur neuen Kategorie der Verhaltenssüchte. Die Erweiterung des Suchtbegriffs auf den nichtsubstanzgebundenen Bereich (i. e. Verhaltensweisen) hat allerdings eine beachtliche wissenschaftliche Kontroverse ausgelöst.
In der noch aktuellen Version der ICD-10 wird die Computerspielsucht bzw. Internetsucht nicht erwähnt. Konzeptionell – da Süchte generell auch einen Ausdruck einer dysfunktionalen Impulskontrolle darstellen – wird sie unter F63.8: „andere abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ kodiert. Psychopathologisch ist hier zu beachten, dass diese Diagnosekategorie im Vordergrund den Aspekt des Kontrollverlusts bei Abhängigkeitserkrankungen wiedergibt. Andere Kriterien, die für die Diagnosestellung einer internetbezogenen Störung bzw. pathologischen PC-Spielekonsum wie z. B. gedankliche Eingenommenheit, Entzugssymptomatik, Toleranzentwicklung, erfolglose Abstinenzversuche, Verlust des Interesses an früheren Aktivitäten, exzessive Nutzung von Online-Computerspielen trotz auftretender (psychischer/finanzieller/sozialer) Probleme, Lügen über das tatsächliche Ausmaß des Spielens und Versuche, Emotionen durch Spielen zu regulieren, finden in ICD-10 keine Berücksichtigung. Andere Kliniker und Forscher halten eine anderweitige Klassifikation außerhalb des gebräuchlichen Suchtspektrums für sinnvoll.
Auch wenn sich diese Argumentationslinie in den aktuellen Forschungsarbeiten und Klassifikationssystemen nicht durchsetzt, ist es hilfreich, diese hier kurz zu erwähnen. Es wird u. a. argumentiert, dass PC-Spielkonsum oder dysfunktionale/exzessive Internetnutzung ätiopathologisch wenig Gemeinsamkeiten mit dem üblichen, substanzgebundenen Suchtphänomen haben. Demzufolge wird vorgeschlagen, den dysfunktionalen PC-Spielekonsum unter der Kategorie F68.8 „Sonstige näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen“ zu subsumieren.
In dem Zusammenhang wird die Störungskategorie nicht als Verhaltenssucht, sondern als dysfunktionaler Aspekt im Erleben und Verhalten postuliert und definiert einen pathologischen PC-Gebrauch durch das Vorhandensein folgender Symptome:
Hier werden hilfreiche Entscheidungskriterien aufgelistet, die in der klinischen Praxis zur Unterscheidung von riskantem vs. pathologischem Medienkonsum herangezogen werden. Im klinischen Alltag haben sich diese Kriterien auch zur Beurteilung von fraglichem Konsummuster von Jugendlichen – nicht nur Erwachsenen – bewährt. In ICD-11 kommt noch der Aspekt des Cravings (Verlangen nach der Substanz, was an Substanzkonsumstörungen angelehnt ist) als weiteres Kriterium hinzu. Das erwähnte Konsummuster kann kontinuierlich oder rezidivierend auftreten. Nach ICD-11 sollte die Diagnose nur gestellt werden, wenn das Spielverhalten sowie die anderen Kriterien seit mindestens 12 Monaten bestehen. Sind alle Symptome jedoch in starker Ausprägung erfüllt, so kann die Diagnose auch bei kürzerer Dauer gestellt werden.
Viele Studien unterscheiden sich in der Definition, was als riskant und was bereits als pathologisch zu betrachten ist. Im klinischen Alltag ist dies jedoch ein sehr wichtiger Aspekt, der mitunter entscheidet, ob es sich um eine behandlungsbedürftige psychische Störung handelt oder um eine subklinische Form, die einer professionellen Beratung bedarf. Zu beachten ist, dass das zeitliche Ausmaß bei Mediennutzung alleine nicht ausschlaggebend ist – was oft im Alltag für fachfremde Personen den Hauptstreit- und -diagnoseaspekt bildet.
Genauer gesagt: Pathologisch ist ein Verhaltensmuster, was die gültigen Diagnosekriterien erfüllt – auch die zeitlichen. Riskant kann in dem Zusammenhang vieles bedeuten, z. B. Akkumulation verschiedener Risikofaktoren für eine pathologische Entwicklung oder eine subklinische Manifestation der Symptomatik ohne Erfüllung zeitlicher Kriterien. Entsprechend der älteren Klassifikationsempfehlung wird ein riskantes Konsummuster als „dysfunktionaler PC-/Internet-Gebrauch mit hohem zeitlichen Ausmaß ohne Dichotomieerleben“ unter dem Diagnosecode ICD-10: Z72 (Probleme bei der Lebensführung) verschlüsselt.
An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, dass es nicht Ziel dieses Beitrags ist, neue digitale Medien zu dämonisieren. Die neuen Medien sind fester Bestandteil der modernen Zivilisation und aus dem Alltag von Jugendlichen und Erwachsenen nicht mehr wegzudenken. Es geht hier um entgleiste Verhaltensmuster – ein Extrem auf einem heterogenen Kontinuum, was leider in den Pandemiejahren stark zugenommen hat.
Es steht außer Frage, dass der digitale Medienkonsum auch neurobiologische und neuropsychologische Vorteile hat, wie die Verbesserung visuomotorischer und visuell-räumlicher Fertigkeiten. Gleichzeitig hinterlässt exzessiver und langandauernder PC-Spielekonsum Spuren im sich entwickelnden Gehirn, wie dysfunktionale exekutive Verhaltenskontrolle und eingeschränkte Fähigkeit zum Belohnungsaufschub – was im Grunde als neurobiologisches Korrelat für die beobachteten Verhaltensauffälligkeiten herangezogen werden kann. Dies überrascht jetzt nicht unbedingt und es bleibt auch zu klären, was Ursache und was Wirkung ist.
Aber wie kann man nun Tim und Tom und allen anderen Betroffenen helfen? In den letzten Jahren haben sich verschiedene kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapieprogramme und Interventionen etabliert. Auch an verschiedenen Institutsambulanzen und Kliniken werden gruppentherapeutische Behandlungsoptionen angeboten. Andere Kliniken haben sich auf ein vollstationäres Behandlungskonzept spezialisiert. Leider bleibt die Rezidivrate, zumindest aus persönlicher Beobachtung, bei Jugendlichen recht hoch.
Meines Erachtens ist der Transfer der therapeutischen Fortschritte in den altersentsprechenden Alltag und die psychosoziale Umgebung sehr wichtig. Als Spezifikum für das Kindes- und Jugendalter wäre hier eine Mitwirkung unterschiedlicher Akteure wichtig – vor allem der Einbezug von Schulen und gemeindenahen Einrichtungen. Eine zeitgleiche Behandlung der komorbiden Störung ist sehr wichtig. Auch die Entwicklung und Stärkung von sozialen Kompetenzen.
Dabei bleibt es zu berücksichtigen, dass der Medienkonsum ein großer Bestandteil der heutigen altersgerechten Entwicklung ist. Eine „Null-Konsum-Strategie“, wie bei substanzgebundenen Süchten oder bei der klassischen Glückspielsucht, kann nicht immer individuell umgesetzt werden und könnte negative Auswirkungen auf die weitere berufliche Integrationsfähigkeit haben. Es ist nicht ernsthaft zu erwarten, dass Heranwachsende ohne digitale Medien auskommen sollen. Man kann zwar auf Alkoholkonsum verzichten oder auf Zigaretten – aber in den meisten Fällen ist ein Verzicht auf einen PC nicht realistisch.
Bildquelle: Ash Edmonds, unsplash.