Die Rezeptpflicht ist vielen Patienten ein Dorn im Auge. Und so mancher Apotheker gibt dem nörgelnden Kunden nach, wenn mal das Rezept fehlt. Wo liegen die gesetzlichen Grenzen und welche Ausnahmen gibt es?
Mal wieder ist bei Herrn Zuppel völlig überraschend ein Arzneimittel zur Neige gegangen – natürlich an einem Samstag. Der erste Weg führt ihn entsprechend in die Apotheke. Schließlich gibt es doch die Kundenkarte und der Herr Doktor schreibt das Präparat ja auch seit Jahren auf.
Wer kennt solche Argumente der Kundschaft nicht? In vielen Apotheken ist es dann Usus, einen Streifen gegen Bezahlung auszuhändigen. Sobald die Patienten ihr Rezept vorlegen, erhalten sie die Summe zurück und bekommen den Rest des Präparats. Doch genau hier ist das Problem: Die Kunden haben Ansprüche. Und vielen Teams fällt es schwer, nein zu sagen. Sie wollen ja auch niemanden an die Konkurrenz verlieren. Den Satz „Dann gehe ich eben in die nächste Apotheke“ hört niemand gern. Nur wird die Sachlage dadurch noch lange nicht legitimiert.
Zum Hintergrund: Das Arzneimittelgesetz (AMG) § 48 regelt die ärztliche, zahnärztliche oder tierärztliche Verschreibungspflicht. Und die Passagen gelten auch, falls Kunde Zuppel sein Schilddrüsenhormon oder eine andere Pille schon seit Jahren einnimmt. Wer dagegen verstößt, muss mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe rechnen (§ 95 AMG). Allein der Versuch ist strafbar.
Urteile gibt es jedoch nur wenige, denn: Wo kein Kläger, da kein Richter. Im Jahr 2015 landete die Praxis, einzelne Blister abzugeben, tatsächlich nach mehreren Vorinstanzen vor dem Bundesgerichtshof (BGH, Az. I ZR 123/13). Was war passiert? Eine Patientin wollte ihr Antihypertensivum in ihrer Stammapotheke erhalten, hatte jedoch vergessen, sich ein Rezept zu besorgen. Apotheker 1 lehnte dies ab und verwies sie – lege artis – an den 15 Kilometer entfernten ärztlichen Notdienst. Darauf hatte sie jedoch keine Lust. Sie bekam das Präparat dann in einer anderen Apotheke von Apotheker 2, ohne ärztliche Verordnung. Prompt klagte Apotheker 1 gegen Apotheker 2 – und bekam Recht. Die Richter sahen keinen Grund, im besagten Fall gesetzliche Regelungen auszuhebeln.
Der BGH erwähnte eine durchaus relevante Besonderheit: Laut Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV, § 4) haben Ärzte die Möglichkeit, Apotheker „fernmündlich“ über Verordnungen zu informieren – und das Rezept später nachzureichen. Auch das ist im besagten Fall nicht geschehen. Der Besuch beim ärztlichen Notdienst sei ebenfalls zumutbar gewesen.
Bleibt noch der oft bemühte rechtfertigende Notstand gemäß § 34 Strafgesetzbuch (StGB). Nur hängt die Abwägung verschiedener Güter, also die Rettung von Leben beim Verstoß gegen ein Gesetz, immer vom Einzelfall ab. Besagte Patientin mit Hypertonie, aber ohne ersichtliche Symptome, die zum ärztlichen Notdienst hätte fahren können, gehört sicher nicht dazu. Anders sieht es aus, sollten Patienten starke Beschwerden haben. Falls sie dann noch Medikamente nennen, die ihnen früher geholfen haben, spricht einiges dafür, die Präparate abzugeben – vor allem, wenn kein Arzt in absehbarer Zeit zur Stelle ist. Dazu zählen etwa eine Anaphylaxie, eine Hypoglykämie, schweres Asthma oder kardiale Beschwerden.
In allen anderen Situationen, etwa bei unklaren Symptomen oder bei Bewusstlosigkeit, sollten Apotheker einen Notruf absetzen und erste Hilfe leisten, aber nicht mehr unternehmen. Eigene Diagnosen und Therapien sind tabu; sie können Menschenleben gefährden, von der Haftung bei Komplikationen ganz zu schweigen.
In Österreich haben Apotheker mit gesetzlicher Rückendeckung mehr Möglichkeiten. Sie dürfen in Notfällen Rx-Präparate ohne Rezept abgeben, wenn auch nur die kleinste Packung (Rezeptpflichtgesetz, § 4). Darüber entscheiden sie selbst.
Deutschlands Apotheker wünschen sich solche Regelungen schon länger. Beim Apothekertag 2022 forderten Delegierte, Dauermedikamente für chronisch Kranke in dringenden Fällen auch ohne Rezept abzugeben. Nur: Wer mal wieder vergessen hat, ein Rezept für irgendeine Pille abzuholen, ist und bleibt selbst in der Verantwortung.
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