Stell dir vor, du kommst als Erster zu einem großen Unfall auf der Autobahn. Überall Verletzte – und du musst dir schnell einen Überblick verschaffen. Was tust du?
Dieses Einsatzszenario soll einen groben Einblick darüber geben, welchen Anforderungen wir uns in der Präklinik als ersteintreffendes Rettungsmittel beim Massenanfall von Verletzten (MANV) stellen müssen. Da das Schauen über den Tellerrand wichtig ist, sind alle Leser eingeladen, mitzumachen und zu überlegen, wie sie vorgehen würden.
Stell dir folgende Situation vor: gleißende Sonne und Hitze. Die Luft flimmert über dem Asphalt und alles, was du aus der Entfernung sehen kannst, sind Spiegelungen auf der Straße, gepaart mit unwirklichen Schatten.
Im nächsten Moment siehst du plötzlich die Unfallstelle. Du bist verantwortlicher Notfallsanitäter auf einem Rettungswagen und kommst mit deinem Kollegen als Erste an der Unfallstelle an. Die Leitstelle erwartet eine Lagemeldung von dir, um weitere Kräfte an die Einsatzstelle zu schicken. Mit dir sind ein weiterer RTW und ein NEF sowie die Feuerwehr alarmiert worden – die sind jedoch noch nicht eingetroffen.
Ein Fahrzeug ist auf einen LKW aufgefahren. Dutzende Menschen laufen an der Einsatzstelle umher. Schwer zu sagen, wer in den Crash involviert war und wer nicht.
Als ihr ankommt und du die Tür öffnest, wirst du direkt empfangen. „Schnell, kommen Sie … da ist jemand eingeklemmt!“ Ein Mann mit einer Kopfplatzwunde drückt dich an der Schulter in die Richtung des Fahrzeuges, das teilweise unter dem LKW begraben liegt. Sichtung, Triage, Ersteinschätzung – diese Worte gehen dir durch den Kopf, aber wie soll man das tun, wenn man direkt mittendrin steckt?! „Tut mir leid, ich muss zuerst wissen, wer hier alles betroffen ist … und wer nicht!“
„Nein, Sie müssen jetzt sofort mitkommen! Der Mann stirbt sonst, es ist alles voller Blut!“ Du rufst deinen Kollegen: „Pack alles auf die Trage!“ Du siehst Blut auf dem Asphalt, umherlaufende Menschen überall … verlorene Gesichter, Öl und Fahrzeugteile, aufgeregte Stimmen. „Ich muss JETZT sofort wissen, wer alles an dem Unfall beteiligt war und verletzt worden ist!“
Keinerlei Reaktion.
„Alle, die NICHTS mit dem Unfall zu tun haben und erst später dazukamen, bitte nach rechts an die Seite!“ Nur ein paar wenige fühlen sich angesprochen und folgen der Anweisung. Drei weitere bleiben stehen, eine Person sitzt an der Leitplanke, eine andere geht zu ihrem Auto und setzt sich hinein – und dann wären da noch die vermeintlich eingeklemmte Person im Fahrzeug und der Mann mit der Kopfplatzwunde an deiner Seite, der schon wieder beginnt, dich in Richtung Fahrzeug zu drücken.
Was tust du?
Schreib in den Kommentaren, welche der Antworten du wählen würdest oder wie du vorgehen würdest:
Du gibst der Leitstelle Rückmeldung. Das könnte so aussehen:
„Erste Lagemeldung: neun involvierte Personen, drei nicht beteiligt, vier potenziell grün, eine potenziell gelb und eine potenziell rot – Patient eingeklemmt.“ Du forderst weitere Kräfte nach.
Du hättest keine der Antworten ausgewählt? Schreibe dein Vorgehen in die Kommentare.
Zur Erklärung: Triagiert bzw. vorgesichtet wird nach verschiedenen Systemen. Meist wird zwischen zwei Grundtypen unterschieden.
Wir arbeiten in diesem Beispiel mit dem System mSTaRT. Das bedeutet:
Kategorie III (grün): nicht dringliche Behandlung, alle gehfähigen Patienten
Kategorie II (gelb): dringende Behandlung, noch keiner Sichtungskategorie zugeordnet (nicht rot, nicht grün)
Kategorie I (rot): sofortige Behandlung. Hier nach einer Checkliste vorgehen:
Schwarz: Todesfeststellung durch Arzt
Was ist also die richtige Antwort? Für dieses Szenario gibt es keine Musterlösung.
Die angebenen Antworten lesen sich erst einmal alle auf ihre Art und Weise sinnig und wahrscheinlich wird jeder einzelne Ersteintreffende die Situation anders beurteilen – je nach Berufserfahrung, Routine und Ausbildungsstand.
Bei allen Antworten gibt es Aspekte, die nicht optimal sind. Die Ersteinschätzung wird zuerst an die Leitstelle gegeben und gibt lediglich die ungefähre Anzahl der exponierten Personen an. Bei allen obigen Varianten wären eine oder mehrere Personen potenziell auf der Strecke geblieben bzw. vergessen worden.
Antwort 1 (mit dem Mann zum Fahrzeug gehen) hätte im Zweifel einfach zu viel Zeit für die erste Rückmeldung gekostet. Du hättest die fußläufigen Personen womöglich aus den Augen verloren und dich verleiten lassen, Maßnahmen bei der eingeklemmten Person zu ergreifen – was bei der Ersteinschätzung nicht deine Aufgabe ist.
Bei Antwort 2 hast du drei Umstehende kategorisiert, die nichts mit dem Unfall zu tun haben. Dafür habt ihr bei eurer Ersteinschätzung und der Rückmeldung eine Person völlig vergessen. Nämlich die Person, die sich selbstständig in ihr Auto gesetzt hat. Wäre diese Person nun schwerer verletzt, wäre sie völlig untergegangen. Der Vorteil des Aufteilens liegt allerdings darin, dass mehr Betroffene in kurzer Zeit eingeschätzt werden können.
Antwort 3: Auch du handelst mit bestem Wissen und Gewissen, verlierst aber ebenfalls die Person, die sich in ihr Auto gesetzt hat, aus den Augen. Die Person an der Leitplanke hast du mit gelb leider falsch kategorisiert. Die Atemfrequenz dieser Person liegt bei über 30/min und der Puls ist nur flach tastbar. Da du sie aber gesehen hast und die Person dich angeschaut hat, hast du auf die wichtigen Handgriffe, wie Atemfrequenz einschätzen und Radialispuls tasten, verzichtet.
Hier sind die Patienten mit ihren Kategorien des Einsatzes nochmal im Überblick:
1x Mann mit Koplawu: grün, da fußläufig
3x grün, da fußläufig
1x geht ins Auto: grün, da fußläufig
1x Leitplanke: rot (AF über 30/min)
3x zur Seite gegangen: keine Kategorie
1x eingeklemmt: rot, da arterielle Blutung
Du siehst also, dass Ersteinschätzung und Vorsichtung nicht alltäglich sind und die Rettungskräfte dabei sehr gefordert werden. Ein Massenanfall von Verletzten ist eine absolute Stresssituation, in der auch Fehler passieren. Es ist daher wichtig, dass es nach der Ersteinschätzung und der Vorsichtung nicht aufhört, sondern im Laufe des Einsatzes reevaluiert wird. Ein Patientenzustand kann sich immer verändern.
Bei einem MANV müssen verschiedene Zahnräder ineinandergreifen. Zwischen dem ersteintreffenden Rettungsmittel über den organisatorischen Leiter Rettungsdienst, den ärztlichen Leiter Rettungsdienst und allen weiteren Kräften sind Kommunikation und gute Zusammenarbeit das A und O.
Nützliche Links:
https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Gesundheitlicher-Bevoelkerungsschutz/Triage-Sichtung/triage-sichtung_node.html
https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesundheit/Sichtung/protokoll-8sikokon-download.pdf?__blob=publicationFile&v=4
Bildquelle: nik radzi, unsplash