Vegetarier erleben offenbar doppelt so viele depressive Verstimmungen wie Fleischesser. Also doch lieber zum Steak greifen? Spoiler: So einfach ist es nicht.
Einer Studie zufolge scheinen Menschen, die sich vegetarisch ernähren, häufiger mit depressiven Verstimmungen und Depression zu kämpfen. Wer als Fleischfan nun geneigt ist, etwas in Richtung „Ich hab's doch immer gewusst!“ zu kommentieren, dem sei gesagt: Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Tatsächlich scheint es sich hier um ein klassisches Henne-Ei-Problem zu handeln, bei dem auch mit den frischen Daten nicht ganz klar wird, ob nun der Vegetarismus einer Depression vorangeht oder umgekehrt.
Im Rahmen ihrer Querschnittsanalyse werteten die Autoren Daten der brasilianischen ELSA-Kohorte aus (14.216 Brasilianer, 35–74 Jahre alt). Das Land ist bekannt für seine fleischreiche Küche, doch Vegetarismus ist auch hier auf dem Vormarsch. Zwar gebe es keine gesicherten Zahlen, aber einer Studie von 2018 zufolge gaben 14 % der inkludierten, in Großstädten lebenden Probanden an, sich vegetarisch zu ernähren, was einem Zuwachs von 75 % im Vergleich zu Daten aus 2012 entspricht (8 % Vegetarier), so die Forscher. Umgekehrt gibt es recht genaue Zahlen zu Brasilianern, die mit Depression leben, wenn auch eine Dunkelziffer wahrscheinlich ist; Schätzungen gehen derzeit von etwa 11,5 Mio. Betroffenen aus (6 % aller Brasilianer), geben die Autoren an. Die „Global Burden of Disease“-Studie habe zudem gezeigt, dass immer mehr Menschen weltweit von Depression betroffen sind. Grund genug, einen möglichen Zusammenhang mit der Ernährung zu untersuchen.
Die Forscher definierten Vegetarismus anhand eines validierten Ernährungsfragebogens und erhoben depressive Phasen mittels des Clinical Interview Schedule-Revised (CIS-R). Der Zusammenhang zwischen einer fleischlosen Ernährung und auftretender Depression wurde als Prävalenzverhältnis (PR) angegeben, das durch eine Poissonregression ermittelt wurde, die um verzerrende Faktoren wie Raucherstatus, Alkoholkonsum und Aktivitätslevel, aber auch Aspekte der Ernährung (Mikronährstoffe, Grad der Verarbeitung verzehrter Lebensmittel, täglich aufgenommene Kalorienmenge, Ernährungsumstellung in den vorangegangenen sechs Monaten) bereinigt wurde. 54,7 % der Teilnehmer waren Frauen, 53,2 % hatten mindestens einen Hochschulabschluss und das mittlere Pro-Kopf-Einkommen lag deutlich über dem Mindestlohn. Das Durchschnittsalter der Probanden lag bei 52,1 ± 9,1 Jahren und 4,2 % hatten eine Form von depressiver Verstimmung erlebt.
Tatsächlich zeigte sich: Eine vegetarische Ernährung korrelierte mit dem Auftreten depressiver Episoden. Probanden, die sich fleischlos ernährten, erlebten diese Phasen doppelt so häufig wie Fleischesser. Das PR rangierte hierbei von 2,05 (95 % KI 1–4,18) im grob bereinigten bis 2,37 (95 % KI 1,24–4,51) im komplett bereinigten Modell. Als wohl größte Einschränkung der Studie geben die Autoren zu bedenken, dass diese Korrelation keine Kausalität abbilde. Tatsächlich sei sogar eher davon auszugehen, dass eine bestehende Depression die Wahrscheinlichkeit erhöhe, sich für eine vegetarische Ernährung zu entscheiden (z. B. aus Schuld- oder Empathiegefühlen gegenüber Tieren). Andersherum sei nicht zu unterschätzen, wie bedrückend Hänselei oder Ausgrenzung für Vegetarier sein können, die sich in ihrem sozialen Umfeld nicht anerkannt fühlen – dies könne eine Depression begünstigen. Insgesamt ist und bleibt ein möglicher Zusammenhang also widersprüchlich; es liegen Studien vor, die suggerieren, dass eine fleischlose Ernährung der mentalen Gesundheit zuträglich ist (z. B. hier und hier) und solche, die das Gegenteil festhalten (z. B. hier und hier). Außerdem sei die Studienlage außerordentlich heterogen, was unter anderem an häufig kleinen Probandenzahlen und Unsicherheiten darüber, wie eine vegetarische Ernährung zu definieren ist, liegt.
Letzten Endes bleibt der Vegetarismus also wohl vor allem eine Gewissensentscheidung, wenn es um psychische Aspekte geht. Die Autoren halten fest, dass das Studienfeld derzeit regelrecht aufblühe und weitere, gut designte Publikationen zu erwarten, zur Beurteilung der Zusammenhänge aber auch nötig seien. Dass eine ausgewogene, pflanzenbasierte und fleischarme Ernährung durchaus Vorteile für die physische Gesundheit mit sich bringt, ist allerdings relativ gut belegt.
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