Anlässlich des europäischen Antibiotikatags kamen viele Wortmeldungen zusammen: Während die Arzneimittelhersteller Deutschland als innovativen Standort loben, packen die gesetzlichen Krankenkassen die Keule aus. Sie kritisieren die allzu freizügige Antibiotika-Abgabe.
Warnende Worte zum europäischen Antibiotikatag: Ärzte, Apotheker und Behördenvertreter wiesen auf Gefahren durch multiresistente Erreger hin. Firmen haben darauf nur eine Antwort: neue Antibiotika. Wie der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) berichtet, seien allein in diesem Jahr vier neue Antibiotika auf den Markt gelangt: zwei gegen Methicillin-resistente Staphylococcus aureus-Keime (MRSA) und zwei gegen multiresistente Tuberkulose. Drei weitere Präparate befänden sich im Zulassungsverfahren, 15 weitere sowie vier antibakterielle Antikörperpräparate in der Phase III. Mit neuen Wirkstoffen allein ist es nicht getan. Immer wieder erkennen Heilberufler, wie wenig sie tatsächlich über bakterielle Resistenzen wissen.
Dass es Sinn macht, nach einer MRSA-Besiedlung nicht nur Patienten, sondern auch Familienangehörige zu behandeln, ist schon länger bekannt. Trotz dieser Strategie blieben Erfolge in vielen Fällen aus. Jetzt hat Stephanie Fritz, St. Louis, einen möglichen Grund entdeckt. In ihrer Studie nahm sie 50 Dreijährige auf. Alle kleinen Probanden hatten sich mit MRSA infiziert oder hatten eine Infektion bereits überstanden. Fritz fand bei 42 Prozent der Kinder an mindestens einer Körperstelle Staphylococcus aureus. Bakterielle Kontaminationen traten auch an Bettbezügen (18 Prozent), TV-Fernbedienungen (16 Prozent) und Handtüchern (15 Prozent) auf. Sieben Prozent der Katzen und zwölf Prozent der Hunde im jeweiligen Haushalt waren ebenfalls kolonisiert. Die Forscher kritisieren, bislang fehlten klaren Empfehlungen, um Wohnungen erfolgreich zu sanieren. Ob es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang zu Rezidiven gibt, müssen prospektive, kontrollierte Studien zeigen.
Krankenkassen interessieren sich kaum für solche Themen – für sie stehen die Schuldigen längst fest. Aktuellstes Beispiel ist der DAK-Antibiotikareport 2014. Verordnungsdaten zufolge haben Ärzte vier von zehn Versicherten im letzten Jahr Antibiotika rezeptiert. Die am häufigsten eingesetzten Wirkstoffe waren Amoxicillin, Ciprofloxacin und Cefuroxim, drei Breitbandantibiotika. Knapp 30 Prozent aller Rezepte galten in Anbetracht der Diagnosen – Infektionen der oberen Atemwege, Bronchitis oder Husten – als fragwürdig. Zum technischen Hintergrund: Laut Paragraph 295 SGB V sind Mediziner verpflichtet, bei vertragsärztlichen Abrechnungen Leistungen Diagnosen gemäß ICD-10-Schlüssel anzugeben. Während Patienten in Brandenburg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern 4,5, 4,8 und 5,0 Tagesdosen bekamen, waren es im Saarland, in Rheinland-Pfalz und in Niedersachsen durchschnittlich sieben Tagesdosen. „Wir brauchen ein kritisches Bewusstsein bei den Ärzten im Umgang mit Antibiotika“, sagt Professor Dr. Gerd Glaeske, Forscher am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Heilberufler – einmal mehr schuldig im Sinne der Anklage? Ganz so einfach ist der Sachverhalt nicht.
Versorgungsforscher haben auch 3.100 Menschen befragt. Zirka 40 Prozent wissen recht wenig über Antibiotika. Sie sind der Meinung, entsprechende Wirkstoffe würden auch bei Virusinfekten helfen – und setzen Ärzte häufig unter Druck. Drei von vier Interviewten wünschen sich Antibiotika bei Erkältungsbeschwerden, und ein Viertel erwartet Wunder, um nur schnell wieder fit für den Job zu sein. Die DAK-Studie zeigt, dass jeweils elf Prozent eigenständig mit der Therapie aufhören oder die Dosis reduzieren, sobald es ihnen besser geht. Noch ein Blick auf den Nachwuchs: Ärzte verordneten 41 Prozent aller Vier- bis Sechsjährigen Antibiotika. Als Indikationen wurden Bronchitis (37 Prozent), Mittelohrentzündungen (29 Prozent) und Erkältungen generell (27 Prozent) angegeben. Dr. Michael Freitag vom wissenschaftlichen Beirat der DAK-Gesundheit sagt: „Bei Virusinfekten sind etwas Gelassenheit und gegebenenfalls eine kurzfristige Schmerzmittelgabe sinnvoller als Antibiotika.“ Wer nur Ärzten die Schuld zuschiebt, übersieht einen entscheidenden Aspekt: Viele Eltern wollen, dass die Kleinen schnell fit werden, um in Kindergarten oder Schule zu gehen. Kein Wunder also, dass 17 Prozent der Erziehungsberechtigten ein Antibiotikum bei Infektionskrankheiten erwarten – und auch mehr oder minder Druck ausüben. Freitag: „Wenn noch mehr Eltern wüssten, dass es durchaus normal sein kann, dass ein Kleinkind bis zu zehn Infekte pro Jahr durchmacht und diese in den allermeisten Fällen innerhalb einiger Tage folgenlos vorübergehen, dann würde auch die Nachfrage nach Antibiotika sinken.“ Dank apothekerlicher Beratung brachen nur jeweils sieben Prozent die Therapie ab oder verringerten die Dosierung.
Wieder einmal scheint der Skandal perfekt zu sein. Allerdings fanden Experten bei der DAK-Studie methodische Schwächen. So sei erst gar nicht versucht worden, mit Ärzten oder Apothekern zu sprechen – Laieninterviews per Telefon sind eben nur ein Teil der Realität. Auch genügt der hohe Abstraktionsgrad von ICD-10-Schlüsseln nicht, um fundierte Informationen zu erhalten. Sinnvoller wäre gewesen, Ärzte anonymisiert über Differentialdiagnosen und patientenbezogene Risiken zu befragen. Unterschiede bei der Infektionsepidemiologie zwischen Ballungszentren im Westen und dünn besiedelten Flächenländern im Osten seien ebenfalls nicht berücksichtigt worden.