Warum schweigen Opfer sexueller Gewalt? Wissenschaftler haben mithilfe der Spieltheorie ein Modell entwickelt, das die Meldebereitschaft mathematisch erklärt. Es zeigt, was Bewegungen wie #MeToo so wichtig macht.
Es gibt viele hitzige Debatten darüber, warum Opfer sexueller Übergriffe keine Anzeige gegen die Täter erstatten. Zwei Wirtschaftswissenschaftler haben die Instrumente ihrer Fachrichtung genutzt, um objektiv zu erklären, warum die Dunkelziffer gerade dann am höchsten ist, wenn Fehlverhalten weit verbreitet ist und was Sensibilisierungskampagnen wie #MeToo bewirken können.
„Es gibt echte wirtschaftliche Gründe, warum Menschen sich nicht melden“, erklärt Studienautor Prof. Ing-Haw Cheng, der gemeinsam mit Wirtschaftswissenschaftlerin Prof. Alice Hsiaw ein Modell erstellte, das die Meldebereitschaft von Opfern sexueller Übergriffe darstellt. Unter Anwendung der ökonomischen Spieltheorie erstellten die Wissenschaftler verschiedene Szenarien, in denen die Entscheidung jedes Einzelnen von den Entscheidungen anderer beeinflusst wird.
In einem Umfeld, in dem sexuelles Fehlverhalten einer oder mehrerer Personen ein offenes Geheimnis ist, sind Opfer häufig verunsichert, ob auch andere Geschädigte Übergriffe melden würden. Wenn sich eine Person dazu entschließt, Fehlverhalten zu melden, weiß sie nicht, ob ihre Anschuldigungen von anderen Berichten bestätigt werden oder ob es sich um einen Sonderfall handelt, der ihre Glaubwürdigkeit schwächt und sie anfällig für Repressalien macht. In der Sprache der Spieltheorie bedeutet dies, dass derjenige, der zuerst eine Anzeige erstattet, einen „first-mover disadvantage“ – einen Initiator-Nachteil – hat, der mit erheblichen Kosten verbunden sein kann.
„Die Unsicherheit darüber, ob sich andere melden werden, kann so groß sein, dass niemand Anzeige erstattet, selbst wenn das Fehlverhalten weit verbreitet ist. Dadurch entsteht eine Kultur des Schweigens“, sagt Prof. Cheng. Das Modell zeigt, dass sich die Meldebereitschaft erhöht, wenn die Betroffenen wissen, dass bereits andere Personen Anzeige erstattet haben, wenn problematisches Verhalten bestraft wird oder Opfer sexueller Gewalt Schadenersatz erhalten.
Das Modell zeigt aber auch, dass Bewegungen wie #MeToo Konsequenzen haben können, die laut Prof. Cheng unvermeidbar sind. Da das Bewusstsein für sexuelles Fehlverhalten zunimmt, entscheiden sich Führungskräfte immer häufiger, nicht als Mentor für jüngere Mitarbeiter zu fungieren. Wenn diese Führungskräfte zu Fehlverhalten neigen, sinkt die Zahl der Vorfälle und damit die Zahl der Meldungen, was wiederum zu allgemeiner Zurückhaltung führt. Wenn gute Führungskräfte, die sich ethisch korrekt verhalten hingegen ein Mentoring scheuen, haben Nachwuchskräfte weniger Möglichkeiten gut betreut zu werden.
Einige Unternehmen versuchen, die Hürde der Unsicherheit durch ein Sammel-System zu überwinden: Dabei werden Berichte über Fehlverhalten entgegengenommen und vertraulich gesammelt. Gehandelt wird erst dann, wenn es mehrere Beschwerden über eine Person gibt. Die Forscher fanden jedoch heraus, dass dieser Ansatz nicht immer hilfreich ist, da die Beschwerdeführer auch dann unsicher seien, ob ihre Meldung zu Konsequenzen führt. Das Modell zeigt dennoch, wie die Kultur des Schweigens überwunden werden kann. „Ein ökonomisches Modell zeigt die logischen Zusammenhänge hinter den bloßen Annahmen“, sagt Prof. Cheng. „Wir können dies als Grundlage für vernünftige Gespräche über ein emotional aufgeladenes Thema nutzen.“
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung der University of Toronto, Rotman School of Management. Die Originalpublikation findet ihr hier.
Bildquelle: Kristina Flour, unsplash.