Erst Remission, dann Transplantation: Das war bisher die Standardempfehlung bei akuter Leukämie. Doch diese Strategie verlangt den Patienten einiges ab – und könnte noch dazu völlig unnötig sein.
Die allogene Stammzelltransplantation (ASZ) ist in Industrienationen eine Standardtherapie bei der akuten myeloischen Leukämie (AML). Sie ist bei vielen Patienten sehr erfolgreich und weiterhin das einzige Verfahren, das im Rezidiv eine Langzeitremission erreicht. Der Preis ist bei einem Teil der Patienten eine Graft-versus-Host-Erkrankung, die aber in der Regel beherrschbar ist. Alles in allem ist die ASZ bei der AML eine der großen Erfolgsgeschichten der Krebsmedizin. Umso erstaunlicher, dass einige sehr grundsätzliche Fragen bisher nie in randomisierten Studien beantwortet wurden. Eine dieser Grundsatzfragen lautet: Wer sollte überhaupt eine ASZ bekommen, bzw. was ist an Vortherapie nötig, damit ein Patient mit AML als geeignet für eine ASZ angesehen werden kann?
Die prinzipiellen Indikationen für eine ASZ bei der AML seien recht unstrittig, sagt Prof. Johannes Schetelig, Leiter des Bereichs Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum und Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Dresden. Grundsätzlich bestehe bei allen AML-Patienten, die nach initial erfolgreicher Induktionstherapie einen Rückfall erleiden, die Indikation für eine ASZ. Dazu kommen Patienten mit genetischen Hochrisikokonstellationen, bei denen nicht auf einen Rückfall gewartet, sondern bereits in erster kompletter Remission transplantiert wird. Eine dritte Gruppe sind AML-Patienten mit intermediärem genetischem Risiko, die auf die Induktionstherapie nicht optimal ansprechen: „Wenn Patienten zwei Wochen nach Therapiebeginn im Knochenmarksausstrich 5 % oder mehr unreife Blasten haben, dann ist die Überlebenschance ohne ASZ deutlich reduziert. Das ist ein weiterer Trigger für die ASZ, auch ohne Rückfall“, so Schetelig im Gespräch mit DocCheck.
Unklarer als diese prinzipiellen Indikationen ist die Frage, welche Voraussetzungen ein Patient mit gegebener Indikation erfüllen muss, damit die ASZ dann auch erfolgreich durchgeführt werden kann. Sollte bei den Patienten erst „um jeden Preis“ eine Remission induziert werden, um den transplantierten Stammzellen quasi optimale Startbedingungen zu verschaffen? Oder ist das vielleicht gar nicht nötig? Genau hier setzte die von Schetelig geleitete, randomisierte ASAP-Studie an, deren Ergebnisse die deutschen Hämatologen kürzlich bei der Jahrestagung der American Society of Hematology (ASH 2022) in New Orleans vorgestellt haben – und die dort für intensive Diskussionen sorgten.
Das Studienakronym ASAP steht für „As Soon As Possible“. Der Name ist Programm. An der ASAP-Studie nahmen 276 erwachsene AML-Patienten mit klarer Indikation für eine ASZ teil. Sie wurden in einen von zwei Behandlungsarmen randomisiert. Im einen Studienarm, RIST (Remission Induction Strategy) genannt, wurde das gemacht, was international Standard ist und auch in Deutschland gemäß Onkopedia-Leitlinie im Regelfall praktiziert wird, eine „Remissions-Induktions-Strategie“: Es wurde also zunächst der Versuch unternommen, eine (erneute) Remission zu induzieren, und zwar mit einer intensiven Chemotherapie aus 3 g/m² Cytarabin (1 g/m² bei Patienten > 60 Jahren) zweimal am Tag an den Tagen 1 bis 3 plus 10 mg/m² Mitoxantron an den Tagen 3 bis 5. Danach folgte dann (unabhängig davon, ob eine komplette Remission erreicht wurde) die zwölftägige Konditionierungstherapie mit anschließender ASZ. Im Vergleichsarm, DisC-Arm („Disease Control“) genannt, wurde die Remission nicht erzwungen, sondern es wurde sofort – bzw. in Abhängigkeit von der Spenderverfügbarkeit so schnell wie möglich, eben „ASAP“ – konditioniert und transplantiert. Allenfalls wurden überbrückend niedrigdosiertes Cytarabin und einzelne Dosen Mitoxantron gegeben, um die Erkrankung unter Kontrolle zu halten. Das war letztlich aber nur bei jedem vierten Patienten tatsächlich nötig.
Primärer Endpunkt der ASAP-Studie war Behandlungserfolg, definiert als komplette Remission am Tag 56 nach der ASZ. Sekundär wurden u.a. Gesamtüberleben und Leukämie-freies Überleben ein Jahr nach der ASZ ermittelt. Das Ergebnis war so eindeutig wie unerwartet: 81,3 % der Patienten im RIST-Arm und 84,1 % im DISC-Arm erreichten eine komplette Remission am Tag 56. Und 69,9 % der Patienten im RIST-Arm und 71,5 % im DISC-Arm waren nach einem Jahr noch ohne Leukämie. Bei einem medianen Follow-up-Zeitraum von bisher 37 Monaten unterschied sich auch die Gesamtsterblichkeit nach einem bzw. drei Jahren nicht signifikant.
In der Gesamtschau profitieren die Patienten deutlich vom DisC-Vorgehen. Zum einen wird auf die intensive Chemotherapie zur Remissionsinduktion verzichtet, und entsprechend gibt es weniger Nebenwirkungen und weniger chemotherapiebedingten Verlust an Lebensqualität. Zum anderen muss nicht auf eine Remission gewartet werden, was letztlich zu einer (deutlichen) Beschleunigung des Verfahrens führt. Im Mittel konnte im DisC-Arm vier Wochen nach Randomisierung transplantiert werden, im RIST-Arm waren es acht Wochen. Passend dazu verbrachten die RIST-Patienten im Mittel 23 Tage länger in stationärer Behandlung als die DisC-Patienten: „Das ist eine Menge Zeit. Dahinter stecken viele Nebenwirkungen, viel Personalaufwand und auch enorme Kosten“, so Schetelig zu DocCheck.
Die ASAP-Studie – derzeit arbeiten die Autoren noch an der Vollpublikation – ist aus mehreren Gründen brisant. Zum einen stellt sich natürlich die Frage, warum eine Studie mit einer derart fundamentalen Fragestellung und hoher Patientenrelevanz nicht schon viel früher gemacht wurde. Schetelig sieht hier nicht zuletzt ein Finanzierungsthema. Während etwa in Studien zu den wirtschaftlich interessanten CAR-T-Zellen-Therapien innerhalb weniger Jahre ein zweistelliger Milliardenbetrag investiert wurde, obwohl bisher nur wenige tausend Patienten damit überhaupt behandelt wurden, gibt es an der ASZ und damit auch an Studien zur Optimierung der ASZ kein kommerzielles Interesse. Ein Entwicklungsprogramm im dreistelligen Millionenbereich, für jedes neue Krebsmedikament Standard, hat es in der gesamten Geschichte der ASZ nie gegeben. „Studien zur ASZ funktionieren ausschließlich über öffentliche Gelder oder Stiftungen“, so Schetelig, der auch die Clinical Trials Unit der Stiftung Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) leitet. Die ASAP-Studie war eine Studie, die durch Mittel der DKMS ermöglicht wurde.
Ein anderer Grund dafür, dass die ASAP-Studie so vergleichsweise spät kam, könnte ein konzeptioneller gewesen sein: Die den Patienten gerne kommunizierte Rationale für die intensive Chemotherapie vor der ASZ lautete bisher oft, dass für die „neuen“ Immunzellen quasi „optimale Startbedingungen“ geschaffen werden müssten, eine Art immunologische Tabula rasa möglichst ohne jede Rest-Leukämiezelle. Diese Vorstellung sei aber nie wirklich richtig gewesen, so Schetelig zu DocCheck: „Wenn es uns gelingen würde, mit der intensiven Behandlung die letzte Leukämiezelle zu vernichten, dann würden wir die Transplantation gar nicht brauchen.“
Dennoch: Der Dresdner Hämatologe bleibt davon überzeugt, dass eine gewisse Reduktion der Leukämiemasse, ein „Debulking“, nötig ist. Die Frage ist nur: Wie viel Debulking ist ausreichend? „Hier gibt es jetzt viel Raum für weitere Studien“, so Schetelig. „Es könnte zum Beispiel sein, dass wir mehr erreichen, wenn wir zunächst einmal mit der ASZ ein gesundes Immunsystem etablieren und dann Erhaltungstherapien einsetzen, um verbleibende Zellen zu kontrollieren. Bisher spielen Erhaltungstherapien bei der ASZ kaum eine Rolle.“
Dass die ASAP-Studie bei der ASH-Tagung in den USA so viel Resonanz erfahren hat, liegt nicht zuletzt daran, dass sie die Therapiealgorithmen in vielen Ländern grundsätzlich in Frage stellt. „In England beispielsweise werden Patienten, bei denen es nicht gelingt, eine komplette Remission vor der ASZ zu erreichen, in vielen Fällen nicht transplantiert“, so Schetelig. Im Gefolge der ASAP-Studie müssten dort also künftig deutlich mehr Patienten transplantiert werden als bisher. Denn nur etwa die Hälfte der intensiv chemotherapierten, potenziellen ASZ-Patienten erreicht überhaupt eine komplette Remission.
In Deutschland erwartet Schetelig keinen so starken Anstieg der Transplantationen, was daran liegt, dass hier auch bisher schon häufig trotz ausbleibender kompletter Remission transplantiert wurde. Diesen „Sonderweg“ begannen die deutschen Hämatologen vor etwa zwanzig Jahren, und sie haben damit gute Erfahrungen gemacht, ohne dass es dazu bisher randomisierte Daten gegeben hätte. Was im Gefolge der ASAP-Studie auch in Deutschland passieren dürfte, ist, dass sich die Zeit bis zur ASZ weiter verkürzt. Und das ist nicht zuletzt ein logistisches Thema, denn Spender müssen identifiziert und die Spenden organisiert werden.
Diese „Spenderaktivierung“, so der Fachbegriff, hat sich in den Pandemiejahren, wenig überraschend, um etwa eine Woche verlängert. Hier muss also deutlich gegengesteuert werden, um jene vier Wochen regelhaft zu schaffen, die die ASAP-Studien „vorsieht“. Am Ende sind kürzere Fristen natürlich nicht zuletzt ein Ressourcenthema, auch für Spenderorganisationen wie die DKMS. Unklar ist bisher, wie lange Patienten ohne Leukämietherapie belassen werden können, bevor das Outcome nach der ASZ dann doch schlechter wird. Dürfen es maximal jene vier Wochen sein, die es in der ASAP-Studie waren? Oder gehen vielleicht auch acht Wochen? Das wäre eine weitere Frage für eine Therapieoptimierungsstudie, die jetzt wichtig wäre – und für die sich Geldgeber finden müssten.
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