Autisten könnten von einer Behandlung mit dem Wirkstoff Sulforaphan profitieren, der in Brokkoli vorkommt. Eine Pilotstudie lässt auf Therapieoptionen gegen Autismus hoffen. Experten warnen vor zu viel Euphorie. Und dann ist da noch der Verdacht auf Vetternwirtschaft.
Selten gehört Gemüse zu den Lieblingsspeisen eines Kindes. Doch Gemüse ist gesund und die meisten Eltern werden nicht müde, ihrem widerwilligen Nachwuchs Brokkoli, Spinat und Co. schmackhaft zu machen. Vor einiger Zeit zierte eine besonders eindrucksvolle Überschrift den Gesundheitsteil zahlreicher Zeitungen: Brokkoli hilft gegen Autismus. Na also, dann nichts wie her mit der Brokkoli-Diät für alle betroffenen Kinder! Doch kann das Gemüse tatsächlich leisten, was reißerische Headlines versprechen? Ganz aus der Luft gegriffen ist die Brokkoli-These nicht. Denn in der Tat gab es eine kleine Pilotstudie an 44 jungen Männern, die von der Harvard Medical School und der Johns Hopkins University School of Medicine in den USA durchgeführt wurde. Und tatsächlich besserten sich auch einige der Autismus-typischen Symptome, nachdem die Teilnehmer einige Zeit mit dem Wirkstoff Sulforaphan behandelt wurden, der auch in Brokkoli, Kohl und Blumenkohl vorkommt.
Begonnen hatte alles mit der Beobachtung, dass viele Eltern autistischer Kinder von einer Symptombesserung berichteten, wenn die Kinder Fieber hatten. Sowohl die soziale Interaktion als auch die Kommunikationsfähigkeiten der Kinder waren bei Fieber deutlich besser als zuvor. "Wir haben zunächst untersucht, was auf zellulärer Ebene hinter diesem Phänomen steckt und vermuten, dass es einen Zusammenhang mit dem zellulären Stresslevel gibt. Bei Fieber schaltet die Zelle Schutzmechanismen gegen Überhitzung an, die sich offenbar auch auf die Symptome des Autismus positiv auswirken“, erklärt Studienautor Andrew Zimmerman. Dabei drängte sich die Frage auf, ob ein Stoff, der eine ähnliche Reaktion in Zellen auslöst, ebenfalls Autismussymptome lindern könne. Die Mechanismen einer Autismusstörung sind zwar noch weithin unbekannt, einige Besonderheiten auf molekularer Ebene konnten dem Krankheitsbild allerdings bereits zugeordnet werden. Dazu gehört auch ein veränderter Stoffwechsel unter Zellstress.
In den 1990er Jahren entdeckten Wissenschaftler der Johns Hopkins University einen Stoff namens Sulforaphan, der die Stressantwort von Zellen bei einem Hitzeschock beeinflusst. Der Stoff ist ein effektives, indirektes Antioxidans, das beispielsweise in Brokkoli, sowie Weiß- und Blumenkohl vorkommt. In ihrer Pilotstudie wollten die Forscher prüfen, ob Sulforaphan sich genauso positiv auf Autismussymptome auswirken könnte wie Fieber.
Dazu schlossen die Wissenschaftler 44 junge Männer im Alter zwischen 13 und 27 Jahren mit einer mittleren bis schweren Autismus-Spektrum-Störung in ihre Studie ein. 29 junge Männer erhielten über einen Zeitraum von 18 Wochen täglich entsprechend ihres Gewichts Sulforaphan aus Brokkoli-Sprossen, die übrigen 15 einen Placebo. Weder Studienpersonal noch Teilnehmer wussten, zu welcher Gruppe die Probanden gehörten. Teilnehmer mit einem Körpergewicht unter 45 kg erhielten täglich eine Kapsel (50 µmol Sulforaphan). Teilnehmer mit einem Gewicht zwischen 46 kg und 90 kg erhielten zwei Kapseln, Teilnehmer über 90 kg drei Kapseln. Mit Hilfe von standardisierten Fragebögen bewerteten sowohl Betreuer als auch Studienpersonal jeweils vier, zehn und 18 Wochen nach Behandlungsstart die Ausprägung der autistischen Symptome der Probanden. Nach 18 Wochen wurde die Einnahme von Sulforaphan bzw. Placebo beendet und nach weiteren vier Wochen das Verhalten von 22 Teilnehmern erneut beurteilt. Vier Studienteilnehmer entschieden sich, die Studie nicht zu beenden.
Bereits vier Wochen nach der Einnahme von Sulforaphan zeigte sich eine Verbesserung der Autismussymptome bei einigen Teilnehmern, die das Verum erhalten hatten. Bei den 14 Teilnehmern mit Placebo-Behandlung gab es keine Verhaltensverbesserung, berichten die Studienautoren. Nach 18 Wochen Sulforaphan-Behandlung gaben die Betreuer von 17 der 26 Teilnehmer an, dass sich das Verhalten, die soziale Interaktion und die Gemütsruhe wesentlich verbessert hatten. Die meisten Symptomverbesserungen verschwanden allerdings wieder, als die Teilnehmer vier Wochen nach Beendigung der Sulforaphan-Behandlung erneut untersucht wurden. Die Wissenschaftler schließen daraus, dass die positiven Aspekte tatsächlich der Sulforaphan-Behandlung geschuldet sind. In einer Pressemeldung geben sich die Forscher beeindruckt und sprechen vom „ersten Mal, dass es in einer Medikamenten-Studie zu Autismus-Spektrum-Störung zu einer signifikanten Verbesserung unter Verum gekommen ist.“ Gleichzeitig räumen sie ein, dass nicht alle Teilnehmer unter Verum von der Einnahme des Medikaments profitierten. Bei einem Drittel der Probanden hatte der Wirkstoff nicht angeschlagen. Weshalb dem so ist, sollen nun größere Studien mit Kindern und Erwachsenen zeigen. Auch die biologischen Wirkungsmechanismen hinter dem Effekt wollen die Wissenschaftler schnellstmöglich aufklären. Einen direkten Zusammenhang zwischen Probanden, die während einer Fieberperiode eine Verbesserung spürten und den Probanden, die auf Sulforaphan ansprachen, konnten die Forscher in dieser Studie nicht feststellen. „Das könnte daran liegen, dass in unserer Kohorte eine besonders hohe Anzahl an Probanden eine Symptomverbesserung bei Fieber verspüren“, erklären die Wissenschaftler.
So hoffnungsvoll die Studienergebnisse auch anmuten. Sie sind auch ein Paradebeispiel für die Verquickung von Wissenschaft und Wirtschaft. Denn aus den Interessenskonflikten, die die Autoren bei jeder Publikation offenlegen müssen, geht hervor, dass die Studienautoren zwar das Patentrecht auf den getesteten Wirkstoff an die John Hopkins University abgetreten haben. Die Universität wiederum hat jedoch die Rechte an das Unternehmen Brassica Protection Products LLC weitergegeben, dessen Geschäftsführer der Sohn eines Studienautors ist.
Unabhängig davon warnt auch Paul Wang, Entwicklungs-Pädiater und Sprecher der US-amerikanischen Organisation „Autism Speaks“ davor, autistische Kinder nun auf eine Brokkoli- oder Kohl-Diät zu setzen. „Die Menge an Sulforaphan, die den Studienteilnehmern verabreicht wurde, ist um ein vielfaches höher als wir über die Nahrung aufnehmen können. Selbst Gemüse mit einem hohen Sulforaphan-Anteil wie Brokkoli und Brokkoli-Sprossen enthalten nicht genug des Stoffes“, sagt Wang. Sulforaphan ist zwar bereits als Nahrungsergänzungsmittel erhältlich, Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung sollten diese Tabletten aber nicht aufgrund der Studienergebnisse verabreicht werden. „Bei dieser Studie handelte es sich lediglich um eine kleine Pilotstudie - zu klein, um die Sicherheit des Stoffes in dieser Dosierung zu gewährleisten. Außerdem gab es auch ein paar negative Nebenerscheinungen, die erst noch geprüft werden müssen. Zwei der 29 jungen Männer, die Sulforaphan erhalten hatten, erlitten während der Studienzeit epileptische Anfälle. Damit hatten sie zwar bereits vor der Studie zu kämpfen, aber ein Zusammenhang mit Sulforaphan kann nicht ausgeschlossen werden, denn in der Placebo-Gruppe war kein Teilnehmer betroffen“, so Wang. Blutuntersuchungen der Probanden hatten außerdem gezeigt, dass einige Leberenzyme bei Teilnehmern mit Sulforaphan-Behandlung leicht angestiegen waren. „Obwohl keiner der jungen Männer diesbezügliche Symptome verspürte, könnte der Anstieg ein Hinweis darauf sein, dass Sulforaphan zu einer Leberentzündung führen kann“, so Wang. Ob autistische Kinder künftig von dem Wirkstoff aus Brokkoli profitieren könnten, wird sich in weiteren Studien zeigen müssen. Die Therapieoption „Brokkoli gegen Autismus" ist also noch ein ganzes Stück entfernt.