Manuel sitzt auf dem Boden. Seine Frau hat den Rettungsdienst gerufen, weil er plötzlich beim Essen angefangen hatte, zu krampfen. Er schaut uns hilfesuchend an. Dann geht es wieder los. In meinem Kopf rattern die Differentialdiagnosen durch.
Wenn Mitarbeiter des Rettungsdienstes den Notfallort betreten, umgibt sie im Optimalfall ein Lichtkranz notfallmedizinischer Sicherheit. Der Patient fühlt sich nun geborgen, sind doch die Profis an der Einsatzstelle. Die Angehörigen, die den Notruf gewählt haben, können ihre Verantwortung an die professionellen Helfer abgeben. Wenn die Notfallsanitäter allerdings auch im Dunkeln tappen, wird es unangenehm für beide Seiten. Hier zeigt sich dann, dass die Notfallmedizin oft aus unkonventionellen Lösungsansätzen und reiner Improvisation besteht. Und aus dem Ausweichen vor Fixierungsfehlern.
Ich nenne den 28-jährigen Patienten Manuel. Ihm standen die Schweißperlen auf der Stirn. Die Augen sahen aus wie bei einer Figur, die aus ihrem Versteck springt, um die Fahrgäste in der Dunkelheit einer Geisterbahn zu Tode zu erschrecken. Sie fixierten meinen Kollegen und mich und ließen uns nicht mehr los. Manuels Ehefrau hatte uns alarmiert. Manuel hatte während des Mittagessens begonnen, vor ihren Augen zu krampfen. Zuerst dachte sie an einen Spaß und sprach ihn an, er solle doch aufhören, aber er reagierte nicht. Ihre Finger rissen das Telefon von der Gabel und flogen über die Tasten. Er hatte sich nach dem ersten Krampfen auf den Boden gesetzt, um sich nicht noch zusätzlich zu verletzen.
„Es geht wieder los“, sagte er. „Jetzt!“ Die Iris schwamm nach oben, bis sie fast nicht mehr sichtbar und nur noch das Weiße im Auge zu sehen war. Der Mund bildete ein O, die Hände verbogen sich wie bei einer Hyperventilationstetanie. Mein Kollege und ich sondierten noch, da war es auch schon wieder vorbei. Manuel wirkte erschöpft und ängstlich und fragte sich vermutlich, was los war. So wie ich insgeheim auch.
Das musste ein D-Problem sein – und nichts anderes, dachte ich mir. Was sollte ein Patient denn haben, der plötzlich anfängt zu krampfen? Mein Kollege nickte und murmelte auch etwas von Epilepsie. Aber ich fing von vorne an.
Das Stethoskop raus. Die Atemwege waren frei – also kein A-Problem. Manuel sprach und hatte nichts im Mund, das uns später einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Ich drückte den Stethoskopkopf auf den Thorax und auskultierte ihn. Alles frei. Leicht erhöhte Atemfrequenz, als wäre Manuel aufgeregt, aber sonst nichts weiter. Mein Kollege hatte mittlerweile Pulsoxy und Blutdruckmanschette angelegt.
Das Pulsoxy zeigte einen Wert über 97 Prozent, die Pulskurve war rhythmisch und deutete auf einen normofrequenten Rhythmus hin. Der Blutdruck war 130 zu 80, die Rekap-Zeit lag bei deutlich unter zwei Sekunden. Der Bauch war weich. Manuel hatte keinerlei Schmerzen in Abdomen, Brust, Rücken oder Kopf. B- und C-Problem konnte ich ausschließen.
In meinem Kopf geisterte immer wieder der Buchstabe D herum. „Wir brauchen kein EKG“, sagte ich zu meinem Kollegen. Nichts deutete auf ein C-Problem hin. Also blieb am Ende tatsächlich nur noch D: intermittierende Bewusstlosigkeit durch Krampfanfall. Wohl doch Epilepsie, vielleicht durch einen Tumor ausgelöst? Ich nutzte zur Anamnese das SAMPLER-Schema. Die Ehefrau verneinte Allergien, Medikation und Vorerkrankungen. Kopfschmerzen hatte er bisher auch nie. Manuel betrieb Leichtathletik, und das jede Woche. Einen Hausarzt hatte er noch nie gebraucht. Da war nichts mit einer Epilepsie und auch nichts, das darauf hindeutete.
Dann ging es wieder los. Die Arme und Hände verkrampften, der Pulsoxysensor flog vom Finger, der Griff der Blutdruckmanschette krachte auf den Boden. Mein Kollege riss das Ampullarium aus der Tasche und wollte Midazolam über den Nasalzerstäuber geben. Aber bevor er dazu kam, war der Anfall schon wieder vorbei. Die Situation schmeckte nicht. Ich forderte einen Notarzt zur Unterstützung an.
Bis sich die lebensgefährliche Lage von Manuel demaskierte, vergingen fast zwanzig Minuten. Mittlerweile hatte mein Kollege einen venösen Zugang etabliert. Die Trage stand vor der Tür. Manuel legte sich hin. „Ich mache das EKG zur Sicherheit doch noch hin“, sagte mein Kollege. Er drückte den Schalter, ein langgezogener Piepton signalisierte die Bereitschaft. Manuel blickte in dem Moment wieder ins Leere, die Hände zusammengebogen. Die EKG-Kurve raste breit verformt über den Monitor, der Groschen fiel: Das Krampfen entstand aufgrund einer Hypoxie, die durch eine tachykarde Herzrhythmusstörung ohne relevante Auswurfleistung ausgelöst wurde. Nur diesmal limitierte sich diese nicht selbst – die ventrikuläre Tachykardie mündete in ein Kammerflimmern.
Manuel überlebte. Er litt an einer bislang nicht erkannten Kanalopathie namens Brugada-Syndrom. Diese Erkrankung ist hochgefährlich. Sie tritt wie aus dem Nichts irgendwann einfach auf, ohne vorher Ärger gemacht zu haben. Durch genetische Veränderung verschiedener Ionenkanäle und der damit verbundenen Verminderung des Natriumstroms am Herzen verursacht sie eine verfrühte Repolarisation. Tachykarde Rhythmusstörungen bis hin zum Kammerflimmern sind die Folge – ohne jede Vorankündigung.
Bei konsequenter Verfolgung des ABCDE-Schemas und Anbringen des EKGs wäre mir die Herzrhythmusstörung sehr viel früher aufgefallen und auch eine Notarztnachalarmierung, die Gabe von Antiarrhythmika und der Transport wären früher erfolgt. Die Tatsache, es augenscheinlich mit einem Krampfanfall mit Prodromi zu tun zu haben, veranlasste mich dazu, ein wichtiges Diagnosemittel nicht zu nutzen, um Zeit zu sparen. Obwohl Nebel meine Sicht wie in einem Saunaaufguss trübte, hatte ich mich auf die wahrscheinlichste Option versteift, ohne über den Rand zu sehen. Ich lief in einen Fixierungsfehler hinein.
Und ja – manchmal ist es auch nicht so einfach, den Blick auf den Patienten immer frisch zu halten. Dies sollte immer sehr bewusst und nach jedem Einsatz passieren. Gerade, wenn man zehn Einsätze abgearbeitet hat, bei denen Patienten an keinerlei interventionsbedürftigen Erkrankungen litten, neigt man dazu, dem elften Patienten etwas Ähnliches zuzuschieben und dann in einen katastrophalen Fixierungsfehler hineinzusteuern.
Erwarte das Unerwartete: Der erste Blick auf einen Patienten ist einfach manchmal nicht der, an dem man letztendlich hängen bleiben sollte.
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