Er ist 92 Jahre alt, wohnt im Seniorenheim, ist grundsätzlich fit – aber Herr Köhler ist allein. Als er Fieber bekommt, fühlt sich keiner zuständig. Und so hilft ihm auch niemand dabei, einfach in Ruhe zu sterben.
Ein Patient, nennen wir ihn Herrn Köhler. Er ist 92 Jahre alt, wohnt im Seniorenheim, hat nur ein paar Vorerkrankungen. Es gibt keine Angehörigen, niemanden. Übrigens, Einsamkeit ist eines der größten gesellschaftlichen Probleme, wenn nicht sogar DAS größte Problem, für das wir keine Lösung haben.
Zuletzt war er nicht mehr so richtig fit, ist auch schon länger bettlägerig und zunehmend lebensmüde im ureigentlichen Sinne. Es gibt leider keine Patientenverfügung, keine Vorsorgevollmacht, es ist nichts geregelt. Herr Köhler hat lediglich den Pflegekräften des Seniorenheims gegenüber gesagt, dass er nicht mehr ins Krankenhaus wolle, egal was kommt. Die Heimleitung hat nicht die personellen Ressourcen, sich um ihn zu kümmern. Also lässt man es laufen und hofft darauf, dass sich alles irgendwie regelt. Dann bekommt Herr Köhler hohes Fieber.
Es ist kurz nach Weihnachten, seit drei Tagen verschlechtert sich der Zustand sukzessive. Also rief man vor drei Tagen den Hausarzt an, der hat aber zwischen den Tagen geschlossen. Die Vertretungspraxis weiß von nichts, fühlt sich auch nicht zuständig, verweist auf den hausärztlichen Notdienst 116 117. Das erleben wir häufiger: Praxen machen zu, benennen irgendwelche Vertretungspraxen und die haben dann auch zu oder wissen von nichts. Das war auch mal anders. Die Patienten landen in einem Versorgungsvakuum.
Die Pflegeleitung hat laut eigenen Angaben daraufhin über mehrere Stunden vergeblich versucht, jemanden zu erreichen. Gleiches Spiel am Vortag, irgendwann sei man durchgekommen. Man habe ihnen gesagt, dass es 24 Stunden und länger dauern könne, man sei überlastet. Sie sollen die 112 rufen, wenn es akut sei. Die 112 wollte man eigentlich nicht rufen, er soll ja nicht ins Krankenhaus.
Erneuter Anruf 116 117, dort Verweis ans Palliativnetzwerk. Dieses ist überlastet, aktuell keine Neuaufnahmen, man verweist zurück auf den nicht erreichbaren Hausarzt. Letztlich kommt das Unvermeidbare, was immer kommt, wenn alle anderen Lösungen scheitern (und das ist mittlerweile der Regelfall) – es wird die 112 gerufen. Die 112 ist die Lösung für alle Probleme, mit Notfallmedizin hat das aber nichts mehr zu tun.
Mangels Alternative wird also die 112 gewählt, die Leitstelle schickt einen RTW, „Fahr mal gucken.“ RTW fährt gucken und findet Herrn Köhler hoch fiebernd vor. Er atmet zu schnell, die Sauerstoffwerte sind kritisch. Er wird aber sehr sicher nicht in den nächsten Minuten sterben. Trotzdem: Herr Köhler will nicht ins Krankenhaus. Weil das Team vom RTW auch nicht weiterweiß, fordert man einen Notarzt nach. Es ist kein Notarzt im Stadtgebiet verfügbar, alles rollt. Weil bodengebunden keine Notärzte verfügbar sind, wird der Rettungshubschrauber zu Herrn Köhler losgeschickt.
Ich möchte das nochmal zusammenfassen: Weil die Pflegedienstleitung, die Hausärzte und der hausärztliche Notdienst dabei versagen, eine palliative Basisversorgung am Lebensende zu sichern, müssen für zigtausend Euro ein Rettungswagen und ein Rettungshubschrauber losgeschickt werden!
Es gelingt mir vor Ort nicht, eine Lösung zu finden, die dem Patienten gerecht wird. Herr Köhler ist nicht mehr auskunftsfähig, er ist exsikkiert, brodelt, der Urin riecht extrem streng. Idealerweise wäre jetzt ein akuter Palliativdienst, der zum Beispiel Morphin subkutan gibt, damit Herr Köhler friedlich einschlafen kann. Dafür bräuchte es aber erstmal einen Palliativdienst und idealerweise auch vorab eine schriftliche Regelung, dass das alles im Sinne des Patienten geschieht. Alternativ könnte ich den Hausarzt anrufen, der mal nach ihm sieht, ggf. Morphin gibt oder anordnet und hinterher die Leichenschau übernimmt.
Aber alles das gibt es nicht. Es ist nichts geregelt und es gibt keine andere Alternative, als den Patienten – vermutlich gegen seinen Willen – in eine Klinik zu transportieren. Die nächste aufnahmebereite Klinik ist 45 km entfernt, mit dem RTW eine Strecke von einer Stunde und 10 Minuten.
Am Ende haben alle Beteiligten einen Hals, weil sich die Situation nicht besser lösen ließ. Herr Köhler wird nach einer langen Odyssee im Dreibettzimmer eines hoffnungslos überbelegten Krankenhauses alleine und ohne Beistand auf irgendeiner unterbesetzten Station versterben. Das kotzt mich alles auf verschiedenen Ebenen so dermaßen an.
Was meint ihr, wie man sich damit fühlt, wenn man nach so einem Einsatz zur Wache fährt? Man hat niemandem geholfen, aber die Umstände zwingen einen, Dinge zu tun, die man nicht tun will. Funktionierende Alternativen gibt es nicht mehr. Der ambulante Sektor ist kaputt, hoffnungslos überlastet. Es ist zermürbend. Diese Diskrepanz zwischen dem Gelernten und Gelehrten und der Wirklichkeit. Was wir hätten tun müssen und was richtig gewesen wäre, ist einfach nicht mehr umsetzbar. Also tun wir Dinge, mit denen wir selber nicht leben können, weil das kaputte System uns dazu zwingt.
Das ist alles so krank.
Bildquelle: Abi Ismail, unsplash