Menschen helfen: Für nichts anderes bin ich Ärztin geworden. Aber wie soll man dazu noch die Zeit finden, bei all dem Papierkram?
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Kennt ihr Tabaluga? Da gibt es eine Schildkröte, die singt „Ich wollte nie erwachsen sein …“ Vor Kurzem erwischte ich mich dabei, dass mir im Kopf ein anderer Text rumschwirrte: „Ich wollte doch nur Ärztin sein …“ Aktuell kommt es mir so vor, als würde das, wofür ich diesen Beruf eigentlich mal ergriffen habe, immer mehr von anderen Dingen verdrängt, die ich einfach machen muss.
Natürlich ist das in der Anfangsphase als Chefin immer krasser als nachher, wenn sich alles eingespielt hat (zumindest hoffe ich das). Aber ich merke aktuell echt überhaupt gar nichts vom viel beschworenen „Als Chefin kannst Du selbst entscheiden“, sondern fühle mich eher eingeengt zwischen den ganzen Ansprüchen und Bestimmungen.
Über das Thema Ansprüche des Personals und der Patienten hatte ich ja schon mal geschrieben. Aktuell kommt aber auch noch die Themen Bürokratie, Vorschriften und Datensicherheit dazu. Es ist absolut unglaublich, was ich in den letzten Monaten an Papier gewälzt habe – gefühlt hab ich einen ganzen Wald auf dem Gewissen … .
Da wären zum Beispiel die genehmigungspflichtigen Leistungen: Ich war ja schon über meinen Chef als Fachärztin auf einem KV-Sitz angestellt. Schon damals fand ich es unglaublich, was das für ein Klimbim ist. Um zum Beispiel Ultraschalluntersuchungen durchführen zu können, musste ich eine separate Genehmigung haben – ok, so weit verständlich. Dafür meine Facharzturkunde für Innere und Allgemeinmedizin einreichen zu müssen – auch verständlich. Dann aber das komplette Logbuch für die Sono-Untersuchungen, was ich für den Facharzt kurz zuvor schon einmal bei der Kammer einreichen musste, nochmal bei der KV einzureichen, damit die das NOCHMAL abheften (damals wirklich noch in Papier), fand ich dann schon seltsam.
Jetzt sollte man meinen, dass diese Genehmigung dauerhaft gilt oder mit der Zulassung als Selbständige automatisch übernommen wird (denn meine Qualifikation verschwindet ja nicht mit der Selbständigkeit). Aber Nein: Es muss nochmal ein Antrag auf Übernahme gestellt werden. Was für die gesammelten genehmigungspflichtigen Leistungen SEHR unterschiedlich gehandhabt wird. Teils reicht ein Zweizeiler per E-Mail, teils muss doch nochmal der komplette Antrag ausgefüllt werden, obwohl sich (außer der Betriebsstättennummer) nichts geändert hat.
Für meine Angestellte gilt das übrigens auch – obwohl sich ja bei ihr nicht einmal der Status ändert. Sie bleibt angestellte Fachärztin, aber jetzt halt mit neuer Betriebsstättennummer. Also auch da alles nochmal neu beantragen. Mal ernsthaft: Qualitätskontrolle in allen Ehren – aber was soll das?
Und damit ist der Papierkrieg ja noch lange nicht vorbei! Ein weiteres Thema ist die Datensicherheit. Im sehr schönen (und für Anfänger empfehlenswerten) Seminar „How not to go to prison“ hatte ich mir glücklicherweise schon vor Monaten einen Überblick geholt, worauf man da achten muss. Und auch in den ruhigeren Phasen im Sommer schon mal mit ein paar Dingen (Datenverarbeitungsverzeichnis, etc.) angefangen.
Auch das ist für mich ein Papiertiger ohne Gleichen: Ja, ich möchte versuchen, mit Daten möglichst sensibel umzugehen. Aber ob dieses Formular dabei wirklich hilft? Ich wüsste nicht wie. Entweder man macht sich Gedanken darüber oder eben nicht – das Datenverarbeitungsverzeichnis ist vor allem was zum Vorzeigen, damit man „die Dokumentationspflicht erfüllt hat“ (und es ist tierisch teuer, das nicht zu haben). Sinn für den Patienten? Aus meiner Sicht eher gering.
Dann noch das Thema Arbeitsschutz/Betriebsmedizin. Auf dem Land will uns niemand betreuen, also: Unternehmermodell der BGW. Die dafür notwendige Fortbildung („Motivations- und Informationsveranstaltung“) darf man aber übrigens erst machen, wenn man Chef ist, oder wenn der aktuelle Chef einen als Beauftragten benennt (was mein Chef netterweise gemacht hat). Sonst geht man ggf. in die Praxis, ohne die erforderlichen Kenntnisse zu haben – gleichzeitig hat man aber sofort in der neuen Praxis die entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen vorzuweisen, worauf dann auch in den Zulassungs-Seminaren der KV hingewiesen wird. Für mich auch nicht wirklich verständlich: Warum kann ich das Seminar nicht vorbereitend buchen und mich dann in Ruhe darauf vorbereiten, was ich als Arbeitgeber beachten muss, wenn es doch ab Tag 1 der Selbständigkeit erfüllt werden soll?
Im Seminar selbst muss man unterscheiden: Die Referenten haben sich wirklich alle Mühe gegeben, uns das Thema interessant und motiviert rüberzubringen (was in fünf Stunden schon für rauchende Köpfe sorgt). Aber auch da kann man teilweise nur den Kopf schütteln. Wieso darf jeder Friseur seine Gefährdungsbeurteilung im Durchklick-Verfahren machen und wir müssen alles selbst erstellen? Es ist doch auch in der Arztpraxis so, dass sich in den allermeisten Praxen ähnliche Probleme (v. a. Blutabnahme, etc.) ergeben.
Da gibt es auch Dinge, die ich nicht verstehe: Wenn die normalen Kanülen zur Blutabnahme so gefährlich sind – warum werden sie nicht komplett durch sichere Kanülen ersetzt? Und mal ganz ernsthaft, auch wenn laut BGW über 70 % der Praxen die stichsicheren Kanülen verwenden: Ich kenne eigentlich keine Praxis, die das tut – die allermeisten haben nur einen Satz stichsichere Kanülen, wenn eine Begehung angekündigt ist. Das ist doch fadenscheinig.
Ebenso wie der Begriff „Motivationsveranstaltung“: Die Motivation ist vor allem, dass sonst empfindliche Geldstrafen drohen … ist das nicht genau die Motivationstechnik, die wir als Ärzte gegenüber den Patienten immer vermeiden sollen? Mit negativen Konsequenzen drohen?
Das Thema, wo ich wirklich das größte Problem sehe, man aber faktisch kaum Unterstützung erhält, ist das Thema Sicherheit der Praxisdaten (Stichwort Ransomware/Cyberattacken, etc.). Die Ratschläge, die man bekommt, sind oft Allgemeinplätze (aktueller Virenscanner, keinen Anhang einfach so öffnen), aber so richtig hilfreich ist das nicht. Und gerade im Bereich E-Mail geht schon eine Menge, wie ja schon 2016 die Stiftung Warentest schrieb, speziell für „sicherheitsbewusste Nutzer“. Gerade weil uns ja Patienten viele sensible Daten „mal eben per Mail“ schicken, finde ich diesen Bereich sehr wichtig.
Die Einschläge kommen dabei immer näher. Bei uns wurde jetzt erst ein großer Pflegedienst gehackt, Krankenhäuser wurden auch schon häufiger ins Visier genommen. Aber je besser die sich schützen, desto interessanter werden kleinere Fische – wie Arztpraxen.
Deswegen habe ich jetzt mit unserem IT-Fachmann ein etwas umfassenderes Sicherheitsprogramm beschlossen: Man loggt sich nur noch als User ein und hat dann kaum Rechte, während das Admin-Passwort unter Verschluss bleibt. Auch der Internetzugang wird an den Rechnern mit Praxisverwaltungssoftware soweit es geht gekappt. Stattdessen es gibt einen Quarantäne-Laptop, wo Mails beantwortet werden können und man im Internet recherchieren kann, der aber keinen Zugang zur Praxisverwaltungssoftware hat. Ist das zu extrem? Weiß ich nicht – ich glaube aber eher nicht. Die Zeit wird zeigen, ob die Cyber-Attacken auch weiterhin so zunehmen. Aber gerade in diesem Bereich möchte ich dann keine Risiken eingehen.
Leider nehmen alle diese organisatorischen Dinge mir nun Zeit für das, wofür mein Herz eigentlich brennt, nämlich die Patientenversorgung. Das tut manchmal schon weh, wenn man von Patienten, die man über mehrere Jahre intensiv betreut hat, jetzt nur noch den Eintrag im Tagesprotokoll liest, weil die Kollegin sich gekümmert hat. Man selbst musste gerade noch was unterschreiben.
Ich versuche aber erst einmal, optimistisch zu bleiben – wenn jetzt soweit alles organisiert ist, gibt es dann hoffentlich wieder mehr Zeit. Für meine Familie, für meine Patienten und vielleicht auch wieder für mich selbst.
Bildquelle: engin akyurt, Unsplash