Das beste Gesundheitssystem der Welt kommt gefährlich ins Straucheln. Das musste ich als Patient am eigenen Leib feststellen. Am Ende meiner persönlichen Horrornacht schwebte ich in Lebensgefahr – ohne es zu wissen.
Seit Tagen und Wochen beschäftigen mich zwei Klinik-Erfahrungen, die ich lieber nicht gemacht hätte – und die Frage, ob ich das überhaupt niederschreiben und in die medizinische Welt hinaustragen soll. Denn eines ist sicher, sowohl die Pflegenden als auch Ärzte und Patienten leiden darunter. Der Pflegenotstand hinterlässt Spuren, er verändert nicht nur Abläufe, sondern auch Sicht- und Verhaltensweisen, die für alle Seiten weder gewollt noch gut auszuhalten sind. Wir sitzen alle im selben Boot, aber rudern irgendwie in verschiedene Richtungen.
Dieser Text kann daher nicht mehr als ein Versuch sein, um Verständnis zu werben. Das, was sich derzeit auf so vielen weißen Fluren abspielt, darf kein Normalzustand werden – oder, besser gesagt, bleiben. Genug der Vorrede, hier meine Klinikerfahrungen der letzten sechs Wochen.
Meine zwar noch sehr rüstige aber immerhin fast achtzigjährige Mutter und ich treten die Reise in eine nahgelegene Uniklinik an, mit dem Ziel der Kontrolle meiner Blutwerte und der Überprüfung meiner Augen. Daher auch die für mich wichtige Begleitung durch meine Mutter. Nach dem Arztgespräch und den notwendigen Untersuchungen kommt die Ärztin zu dem Schluss, dass ich besser gleich in die Augenklinik gehen soll und greift zum Hörer, bespricht sich mit der leitenden Augenärztin und meldet mich dort als Notfall an.
Dort angekommen, werden wir von der Security nach dem negativen Coronatest und der Überweisung gefragt. Erstes geht völlig in Ordnung, das mit dem Vorzeigen der Überweisung verwunderte mich leicht. Wie war das noch mit dem Datenschutz? „Kommen Sie zu mir nach vorne.“ Die Sprechstundenhilfe an der Anmeldung wedelt dazu unterstützend mit den Armen.
„Name? Ihre Unterlagen hier runterschieben, nicht dort“, ermahnt mich Frau Anmeldung sofort. „Sie sind doch gar nicht für heute angemeldet, sondern erst in 10 Tagen.“ „Das stimmt“, entgegne ich. „Frau Dr. X hat mit Frau Dr. Y gesprochen und entschieden, dass ich mich besser schon heute vorstellen soll. Frau Dr. X hat mir auch ein Konsil mitgegeben.“ „Das interessiert mich nicht“, fährt sie mich an. „Das ist ja wieder typisch, dass Station Z alles durcheinanderwirbelt, das melde ich an die Klinikdirektorin. So geht das nicht.“
Kaum gesagt, tippt sie augenscheinlich ihre Beschwerde in den Computer. „Für Ihre internen Abläufe kann ich nichts“, entgegne ich tapfer. Meine Mutter flüstert halblaut von hinten: „Es handelt sich um einen Notfall.“ „Und Sie verlassen sowieso diesen Bereich. Begleitungen sind nicht gestattet. Gehen Sie bitte vor die Tür und warten dort“, befiehlt Frau Anmeldung daraufhin meiner Mutter. Anmerkung: Wir sprechen hier von winterlichen Temperaturen im November. Vor der Tür kein Zelt oder irgendein anderer eingerichteter Wartebereich für Begleitpersonen, mit denen man in einer Augenklinik zu einem höheren Prozentanteil durchaus rechnen kann, meine ich.
Meine Mutter verlässt die Szene. „Wie lange wird denn die Wartezeit betragen?“, frage ich vorsichtig und merke, wie leichter Groll in mir aufsteigt. „Na, Sie haben sich ja jetzt dazwischen gemogelt, das dauert sicher drei bis vier Stunden.“ So, nun ist meine Geduld am Ende: „Ich habe mich nicht dazwischen gemogelt, ich bin ein Notfall. Das habe ich mir nicht ausgedacht und würde es mir auch anders wünschen.“ Geistesgegenwärtig höre ich mich sagen: „Sie kennen ja nun meinen Namen, jetzt hätte ich gerne mal Ihren.“ Den bekomme ich dann auch.
Als ich nach den Untersuchengen draußen bin, ruft mich meine Behandlerin an, um zu erfragen, wie es denn gelaufen ist. Nach der Zusammenfassung der Behandlung und der eingeleiteten Therapie, schildere ich ihr noch immer ziemlich aufgewühlt den oben dargelegten Dialog und höre erst mal nichts. Stille. „Geben Sie mir bitte den Namen der Sprechstundenhilfe, das hat Konsequenzen. Das nehme ich gleich mit in die morgige Besprechung. Denn wissen Sie, das war nicht das erste Mal. Der Bogen ist jetzt eindeutig überspannt.“
Meine Mutter hatte es sich inzwischen im Wartebereich der angrenzenden Zahnklinik bequem gemacht und holt mich ab. Gott sei Dank hatte sie sich zu helfen gewusst. Vier Stunden in der Kälte zu stehen, wäre wohl nicht gesund gewesen. Nach insgesamt acht Stunden steigen wir in den Zug, der uns nach Hause bringt.
Was ich verstehe, ist, dass ein großer Druck auf dem Pflegepersonal lastet. Corona und der schon vor diesen letzten fast drei Jahren nicht unerhebliche Personalmangel machen etwas mit den Menschen, die diesen wunderbaren und wichtigen Beruf ausüben. Zurzeit ist der Druck besonders hoch, Stichwort: Pflegenotstand.
Was mir als Patientin mit „hohem Therapiedruck“ – wie es meine Ärztin formulierte – zu schaffen macht, ist der harte Ton, der mir immer häufiger, gerade an der Anmeldung, entgegenkommt und das Gefühl, als Patientin im besten Fall die Abläufe zu stören. Nichts Verbindliches, kein Verständnis, kein Sich-in-die-Lage-der-Erkrankten-hineinversetzen. Nichts dergleichen. Es fühlt sich eher an wie ein Machtspielchen auf falschem Terrain. Diese Lage macht mir vermutlich mindestens ebenso viel aus, wie Ihnen auf der anderen Seite. Der klitzekleine Unterschied aber ist, dass ich krank bin und Hilfe benötige, ich bin – wie so viele andere in vergleichbarer Situation – auf Sie alle in der Pflegebranche angewiesen und bestimmt nicht aus Zeitvertreib in der Klinik (oder Praxis). Ich habe mir das nicht ausgesucht. Mein Lieblingsaufenthaltsort sieht eindeutig anders aus.
Als ich dann zwei Wochen später auch noch den RTW rufen muss, wird es richtig abenteuerlich. Wobei der erste Part, die 112 zu wählen, (nur (!)) drei Minuten zu warten, bis die Sanitäter klingeln und mich mitnehmen, der eindeutig bessere war. Und das trotz tierischer Schmerzen in der Nierengegend, Verdacht auf Nierenstein.
Den zweiten Part, den Aufenthalt in einem Bett auf dem Gang der Notaufnahme von 11 Uhr vormittags bis 2:30 Uhr morgens, muss ich leider als mein schlimmstes Erlebnis bisher – und das will was heißen – ebenda verbuchen. Denn auf Grund meiner komplizierten Krankengeschichte habe ich in den letzten acht Jahren schon mehrmals die Notfallnummer wählen müssen.
Alles rennt an dir vorbei, sprichst du jemanden an und fragst mal höflich nach, wann es weitergeht, wirst du angepampt – wenn du überhaupt eine Reaktion bekommst.
Im Zimmer neben meinem Bett höre ich leider mit, wie der Pfleger den Patienten fragt: „Und, wenn das nicht klappt, möchten Sie dann reanimiert werden oder sollen die Ärzte es lassen? Dann unterschreiben Sie hier.“ Die alte Dame vor mir telefoniert verzweifelt mit ihren Kindern, die sie hier wieder herausholen sollen. Sie ist eindeutig verwirrt. Zwischendrin muss sie dringend auf die Toilette und versucht, jemanden zu erreichen, der sie begleiten kann. Als ich merke, dass das nicht funktioniert, übernehme ich die kurze Strecke. Hinter mir schreit jemand vor Schmerzen um Hilfe.
Gegen 23 Uhr wanke ich dann, vollgepumpt mit Schmerzmitteln, zum berühmten Pflege-Glaskasten. Frage, ob man mich denn noch auf dem Zettel und eventuell ein Zimmer gefunden habe. Erhalte die eisige Antwort, ohne dass der Antwortende vom Computermonitor hochschaut: „Gehen Sie zurück in ihr Bett, ich muss mich konzentrieren, sonst passieren Fehler.“
Später erfahre ich von dem übernehmenden Team, dass genau diese Aktivität schließlich den Anruf in ihrem Krankenhaus initialisierte, der dort um 23:15 Uhr einging. Trotzdem dauert es aber immer noch bis 2:30 Uhr, bis es dann losgeht.
Endlich auf der urologischen Station angekommen – es ist inzwischen nach 3:00 Uhr morgens – schauen die Ärzte mit Besorgnis auf meine Blutwerte. Vorstufe zur Sepsis. Der behandelnde Oberarzt ist sichtlich erschrocken: „Das war knapp, Frau N. Ich bin etwas ratlos, warum Sie in den mehr als 15 Stunden keine Antibiose erhalten haben und erst so spät zu uns gekommen sind.“ „Wieso so spät?“, hake ich verwundert nach. „Es gibt genau drei kooperierende Kliniken, die eine urologische Station haben und wir hatten bereits seit gestern um 11 Uhr drei freie Betten.“
Natürlich sind die Stationen überlastet, wegen Personalmangel und wegen einer nicht unerheblichen Anzahl von Patienten, die eigentlich zum Hausarzt gehören würden. Die Gereiztheit der Gesellschaft schwappt auch in die Krankenhäuser, keine Frage. Kann ich alles verstehen. Doch wenn dadurch Behandlungsfehler geschehen, ist ein Punkt erreicht, der alle aufmerken lassen müsste. Das hätte böse enden können. Ist es denn schon so weit, dass nicht mehr gesehen werden kann, wer ein „echter“ Notfall ist und wer nicht? Ich fürchte ja. Wer jetzt ernsthaft krank wird, hat schlechte Karten oder sollte auf jeden Fall die Notaufnahme meiden.
„An Ihrer Stelle würde ich ja einen Brief an die Klinikleitung schreiben“, rät mir der Oberarzt bei der Entlassung. Wow, das aus dem Munde eines Arztes zu hören, ist neu für mich. Dass dieser Vorschlag so geäußert wird, ist sicher Beleg dafür, dass auch die Mediziner nicht gerade zufrieden mit der Gesamtsituation sind. Ob ich das tue, weiß ich noch nicht. Denn natürlich frage ich mich, ob die Beschwerde überhaupt gelesen wird. Außerdem bin ich sehr glücklich und dankbar, dass das Ärzteteam des anderen Hauses Schlimmeres verhindern konnte, immer an meiner Seite war und mich engmaschig betreute. Das ist das, worauf ich mich in erster Linie konzentriere. Ohne deren Hilfe hätte es vielleicht kein Happy End gegeben. Und genau diese Erkenntnis ist es dann auch, die mich vermutlich doch einen Brief schreiben lässt.
Wohin wird diese katastrophale Versorgung noch führen? Die Frage ist berechtigt, hilft aber nicht. Ich fürchte, die Maßnahmen, die erfolgversprechend sind, brauchen einen zu langen Vorlauf. Was kann man jetzt tun? Die Medien sind voll von Berichten von immer neuen Engpässen in der medizinischen Versorgung. Inzwischen haben der Pflegenotstand und die Auslagerung der Herstellung von Medikamenten ins Ausland auch die Kinderpraxen und -stationen der Republik erreicht.
Vieles davon hat sich schon lange aufgebaut. Es sind logische Konsequenzen falscher Entscheidungen und Maßnahmen. Das fängt bei der schlechten Bezahlung an und hört bei den langen (Fax-)Wegen auf. Digitalisierung ist auch so ein Stichwort, was in diesen Zusammenhang gehört. Pardon, die fehlende Digitalisierung. Erst gestern wurde ich von einer Praxis aufgefordert, doch bitte ein Fax an die Teamleitung zu schicken, damit ich schneller einen Termin erhalte. Bitte was? Ein Fax? Ich glaube es ja nicht.
Mein Resümee aus all dem: Wer kein „echter“ Notfall ist, sondern nur einen Termin beim Haus- oder Facharzt benötigt, wählt bitte nicht die 112! Und sonst: Bloß nicht ernsthaft krank werden und wenn doch, Notfallambulanzen unbedingt meiden.
Der Autor ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben.
Bildquelle: Gonzalo Kenny, Unsplash